Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II
immer heftiger zu zittern. Trotz des Regens, der sich seit Wochen über fast ganz England ergoss, war es für die Jahreszeit nicht sehr kalt, aber der uralte Körper, in dem ich gefangen war, hatte den Temperaturen nicht mehr viel entgegenzusetzen. Die Müdigkeit, die ich spürte, war auch nicht nur die einer Nacht ohne Schlaf. Was ich auch und vielleicht viel mehr fühlte, das war das Gewicht der Jahrhunderte, die auf den Schultern dieses Leibes lasteten und deren Anklopfen nun nicht mehr von der Kraft einer uralten Magie zurückgewiesen wurde.
»Warum schläfst du nicht?«, murmelte eine Stimme neben mir.
Müde wandte ich den Kopf und blickte in Landons Gesicht. Er hatte sich auf seinem Lager zusammengerollt und wohl auch schon einige Momente geschlafen, wie seine trüben Augen und der teigige Glanz seiner Haut verrieten. Vielleicht hatte ich ihn mit meiner Bewegung geweckt. Aber er sah nicht verärgert aus, sondern nur besorgt – und irgendwie nachdenklich.
»Ich bin nicht müde«, log ich. Landon zog viel sagend die Augenbrauen zusammen und ich beeilte mich, mit einem verunglückten Lächeln hinzuzufügen: »In meinem Alter braucht man nicht mehr sehr viel Schlaf, weißt du?«
Ich hoffte, dass er sich mit dieser Erklärung zufrieden geben würde, aber er setzte sich im Gegenteil auf seinem Lager weiter auf, zog mit einem sichtbaren Schaudern die Decke enger um die Schultern und musterte mich mit schräg gehaltenem Kopf.
»Was ist los mit dir, Bob?«, fragte er. »Du siehst nicht gut aus.«
Ich rückte ein kleines Stück von ihm fort, nicht so weit, dass es auffiel, aber doch weit genug, dass ich hoffen konnte, er würde mein Gesicht im blassen Licht des heraufdämmernden Morgens nicht genau erkennen, und zuckte mit den Schultern. »Nichts«, sagte ich. »Nichts Besonders, jedenfalls. Die Nächte sind schlimm. Und lang, wenn man nicht schlafen kann.«
Landon nickte ein paar Mal, sah sich suchend um und förderte dann seine Flasche unter der Decke zutage. Zu meiner Erleichterung verzichtete er darauf, mir einen Schluck ihres magenzerfressenden Inhaltes anzubieten, sondern bediente sich nur selbst und verkorkte sie anschließend sorgsam wieder. »Ich kenne das«, sagte er. »Ich liege oft selbst wach und kann nicht schlafen. Man braucht wohl nicht viel Ruhe, wenn man nichts zu tun hat.« Er blickte mich einen Moment lang forschend an. »Wie alt bist du, Bob?«
Erneut zuckte ich mit den Schultern. »Dreihundert«, antwortete ich. »Vielleicht auch ein bisschen mehr.«
Landon wirkte eine Sekunde lang irritiert, ja, beinahe erschrocken, dann lachte er; wohlweislich sehr leise und auch nur für eine Sekunde, um die anderen, die zum Teil nun doch einzuschlafen begannen, nicht zu wecken. »Na ja, das spielt wohl auch keine Rolle«, sagte er. »Auf jeden Fall solltest du nicht hier sein, Bob. Du gehörst nicht hierher.«
Ich muss wohl erschrockener ausgesehen haben, als mir selbst klar war, denn er hob rasch und besänftigend die Hand. »So meine ich das nicht«, sagte er fast hastig. »Du kannst bleiben, solange du willst. Aber ich bin nicht sicher, dass du dieses Leben durchhältst. Der Hunger, die Kälte …« Er zuckte mit den Schultern. »Im Winter ist es manchmal schlimm. Vor ein paar Jahren sind drei von uns erfroren, ohne dass die anderen es gemerkt haben. Gibt es keinen Ort, an den du gehen könntest? Wenigstens ein warmes Plätzchen und eine einfache Mahlzeit, dann und wann?«
»Kaum«, antwortete ich einsilbig. Ich wünschte mir, er würde aufhören. Ich war nahe daran, ihm alles zu erzählen – mit dem einzigen Ergebnis natürlich, dass er mich bestenfalls für vollkommen schwachsinnig halten würde. Und schlimmstenfalls davonjagen würde.
»Wir könnten dir helfen«, sagte er plötzlich.
Überrascht sah ich auf. »Ihr? Wie?«
Landon lächelte fast verlegen. »Na ja, nicht so, wie du vielleicht denkst«, sagte er. »Wir haben nichts, was wir dir geben könnten. Aber vielleicht können wir irgendetwas tun. Ich meine, wenn du uns erzählst, was passiert ist …« Er zuckte viel sagend mit den Schultern. »Wenn dir jemand etwas getan hat, gibt es vielleicht die eine oder andere Möglichkeit, es ihm heimzuzahlen. Oder ein bisschen von dem zurückzubekommen, was dir zusteht.«
Gegen meinen Willen musste ich lächeln. »Und noch ein kleineres bisschen davon mit euch zu teilen, nicht wahr?«, fragte ich.
Landon grinste. »Warum nicht?«
Sein Angebot, so naiv es war, rührte mich fast zu Tränen,
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