Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
Steinplatte von der Felswand zu lösen.
Ich zwang mich, das Relief anzusehen, aber trotz der Entfernung gelang es mir nur für kurze Zeit. Die auf aberwitzige, schier unmöglich erscheinende Art ineinander gekrümmten und gedrehten Linien, die darin eingraviert waren, schienen allen Naturgesetzen Hohn zu sprechen und überstiegen in ihrer Fremdartigkeit die Aufnahmefähigkeit des menschlichen Verstandes. Sie entstammten der Geometrie eines Universums, das mit unserem unvereinbar war. Ihr bloßer Anblick trieb mir bereits nach wenigen Sekunden Tränen in die Augen und verursachte einen stechenden Kopfschmerz hinter meiner Stirn, sodass ich den Blick abwenden musste, bevor der Schmerz allzu schlimm wurde. Ich bemerkte, dass auch die meisten anderen Anwesenden sich bemühten, das Relief nur kurz anzublicken und sich immer wieder benommen über die Augen strichen. Ich konnte ihr Verhalten gut verstehen. Gerade deswegen war es Wahnsinn, wenn Montgomery das Relief hier wegschaffen ließ und es in einem Museum ausstellte. Ich wusste nicht, welche Bedeutung die eingravierten Zeichen hatten und ob dem Relief irgendwelche wie auch immer gearteten dämonischen Kräfte innewohnten, aber es war bereits gefährlich, es auch nur zu intensiv anzusehen. Ein allzu langer Anblick der sinnverwirrenden Gravuren konnte einen Menschen durchaus den Verstand kosten und ihn in den Wahnsinn treiben.
»Kommt mir vor, als würd’ dat Ding jedesmal noch hässlicha werdn«, brummte Rowlf und schnitt eine Grimasse. Die Stimme des bulligen Hünen, der sich in den letzten Jahren zum Boss einer der größten Diebesbanden Londons gemacht hatte, riss mich aus meinen Grübeleien und ich entdeckte Cohen, der sich uns mit raschen Schritten näherte.
»Craven, endlich«, rief er und nickte Howard und Rowlf einen flüchtigen Gruß zu. Gleich darauf hustete er und fächelte mit der Hand nach frischer Luft, nachdem Howard ihm eine Rauchwolke aus seiner frisch angezündeten Zigarre entgegengeblasen hatte.
»Was geht hier vor?«, fragte ich. »Haben Sie mir nicht versprochen, Sie könnten Montgomery für Monate oder sogar Jahre aufhalten?«
»Das dachte ich auch.« Cohen gestikulierte wild mit den Händen. »Aber er muss offenbar ein paar äußerst einflussreiche Freunde haben und ich habe nichts als Ihre Warnungen davor, dieses verdammte Ding hier wegzubringen. Ich wollte für heute gerade Feierabend machen, als er mit einem richterlichen Beschluss in mein Büro gestürmt kam. Ich kann ihn nicht mehr aufhalten, der Beschluss räumt ihm alle nötigen Vollmachten ein.«
»Aber irgendetwas muss man doch tun können! Dieses Ding ist gefährlich, das wissen Sie so gut wie ich.«
»Ich weiß überhaupt nichts. Für mich sind es nur ein paar Krakel in einer Steinplatte, aber Sie wissen ja anscheinend mehr darüber. Deshalb habe ich Sie rufen lassen. Ich bin mit meinen Möglichkeiten am Ende.« Cohen zuckte resignierend mit den Schultern. »Alles weitere liegt nur noch an Ihnen. Versuchen Sie, ob Sie Montgomery überzeugen können, wenn Ihnen so viel daran liegt, aber ich bezweifle, dass Sie damit Erfolg haben werden. Der Mann ist regelrecht besessen von dieser Platte.«
»Wartet ihr hier. Ich spreche erst einmal allein mit ihm«, bat ich Howard und Rowlf, dann wandte ich mich ab und ging zu dem Museumsleiter hinüber. Cohen hatte mit seiner Bemerkung den Nagel auf den Kopf getroffen. In gewisser Hinsicht war Montgomery von seiner Arbeit tatsächlich geradezu besessen. Glücklicherweise waren nur wenige Artefakte aus der Zeit der GROSSEN ALTEN erhalten geblieben, sonst wäre er versessen darauf, jedes einzelne in seinem Museum auszustellen, dessen er habhaft werden könnte.
Als er meine Schritte hörte, blickte er auf und drehte sich zu mir herum. Montgomery war ein knapp sechzigjähriger, leicht untersetzter Mann mit ergrautem Haar und dunklen Augen, in denen überdeutlich die Begeisterung funkelte, die er empfand.
»Ah, Mister Craven«, begrüßte er mich. »Darf ich fragen, was Sie hierher führt?«
»Das gleiche wie Sie«, erwiderte ich und deutete dabei auf das Relief. »Sind Sie wirklich sicher, dass es vernünftig ist, es hier wegzuschaffen und für die Öffentlichkeit auszustellen?«
»Es ist ohne jeden Zweifel eine bedeutende archäologische Entdeckung und deshalb hat die Öffentlichkeit ein Anrecht, daran teilzuhaben«, behauptete er. »Allerdings wird sie sich noch eine Weile gedulden müssen. Zunächst einmal wird es weitere gründliche
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