Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
Kreatur war anders. Sie unterschied sich von allen anderen Ssaddit, die ich je zu Gesicht bekommen hatte. Auch sie war ein scheinbar plumper, augen- und sinnesloser Wurm, dessen einzige Daseinsberechtigung darin zu bestehen schien, zu fressen und zu wachsen, und doch war sie zugleich mehr. Etwas … verband sie mit dem schwarzen, satanischen Relief auf der anderen Seite der Feuergrube. Etwas Unsichtbares, aber auch ungeheuer starkes und böses.
»Nein!«, flehte ich noch einmal. »Bitte, tu das nicht! Du weißt nicht, welche Kräfte du da entfesselst.«
Auf den Zügen des Jungen erschien ein Lächeln, das so kalt und grausam war, dass ich für einen Moment beinahe mehr Furcht vor ihm als vor dem herankriechenden Lavawurm empfand. Es war ein Ausdruck, der nicht auf das Gesicht eines Kindes gehörte, ganz gleich, was es getan hatte und unter wessen Einfluss es stand.
»Willst du sterben wie ein Mann, oder bietest du mir die Befriedigung, dich wimmern und auf den Knien liegen zu sehen?«, fragte er. Dann machte er eine befehlende Geste. »Packt ihn!«
Zwei, drei seiner Männer traten rasch hinter mich und hielten mich mit eisernem Griff fest; und obwohl der Ssaddit über keinerlei sichtbare Sinnesorgane verfügte, wechselte er im gleichen Moment die Richtung und kroch langsam auf mich zu. Wo er sich entlangbewegte, blieb ein Streifen verschmorten Steines zurück. Er war noch drei oder vier Meter entfernt, doch die Hitze, die er ausstrahlte, war bereits jetzt unerträglich.
»NEIN! DAS LASSE ICH NICHT ZU!!!«
Rowlfs Schrei ließ nicht nur den Jungen, sondern auch die Männer hinter mir überrascht herumfahren. Das Entsetzen, mit dem auch ihn das Geschehen erfüllte, schien ihm schier übermenschliche Kräfte verliehen zu haben, denn er bäumte sich plötzlich auf, schüttelte die Kerle, die ihn bisher zu Boden gepresst hatten, wie lästige Insekten ab und verschaffte sich mit einem gewaltigen Hieb Luft. Schneller als irgendjemand zu reagieren vermochte, wirbelte er herum, pflügte wie ein lebendig gewordener Bulldozer durch die Menge und packten den vollkommen überraschten Jungen, um ihn in die Höhe zu reißen. Zwei, drei der Umstehenden wollten sich auf ihn stürzen, aber Rowlf fegte sie einfach zu Boden und war mit einem einzigen, weiteren Satz am Rande der Grube. Ohne auf die verzweifelten Hilfeschreie und das Strampeln und Um-sich-Schlagen des Jungen zu achten, hielt er ihn an den ausgestreckten Armen direkt über den gähnenden Schacht.
»Keine Bewegung mehr!«, brüllte er. »Wenn auch nur eina von euch ein Schritt machen tut, dann schmeiß ichn rein, das schwör ich!«
Die Männer erstarrten. Nur ein einziger Bursche machte einen zaghaften Schritt in Rowlfs Richtung, prallte aber sofort wieder zurück, als dieser eine warnende Bewegung machte. Ich hatte keine Ahnung, ob Rowlf tatsächlich so weit gehen würde, den Jungen in die brennende Lava hinabfallen zu lassen, aber auf die Männer in den roten Mänteln wirkte er anscheinend überzeugend genug. Sie wichen hastig wieder ein Stück weit von ihm zurück und auch die Kerle, die mir die Arme auf den Rücken drehten, ließen mich los, ohne dass es einer besonderen Aufforderung dazu bedurfte. Ich atmete erleichtert auf und trat hastig an Rowlfs Seite.
»Und du hälst de Klappe!«, brüllte Rowlf und schüttelte den Jungen so wild, dass ich seine Zähne aufeinander schlagen hören konnte. Tatsächlich hörte der Junge auf zu schreien und wild um sich zu schlagen.
»Wir wern jetz hia rausgehn tun«, fuhr Rowlf mit erhobener Stimme fort. »Wenn einer von euch Vögln auch nur mitta Wimper klimpert, brech ichem Knirps hia alle Gräten!«
Tatsächlich wichen die Männer rasch vor uns zur Seite, als wir nebeneinander von der Grube zurücktraten. Ein Blick aus den Augenwinkeln zeigte mir, dass der Ssaddit ebenfalls innegehalten und seinen augenlosen Schädel in unsere Richtung gedreht hatte, aber auch nicht näher kam. Vielleicht hatten wir tatsächlich doch noch eine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Dieser Junge schien – so unglaublich es auch war – tatsächlich so etwas wie der Anführer dieser Männer zu sein.
Etwas stimmte nicht.
Der Gedanke entstand so deutlich hinter meiner Stirn, als hätte ihn jemand ausgesprochen. Es war zu leicht. Ich hatte irgendetwas vergessen. Etwas Wichtiges.
Als ich meinen Fehler begriff, war es zu spät.
Wir hatten uns drei oder vier Meter vom Rand der Feuergrube entfernt und das war genau die Distanz, die der Junge
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