Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
Kapitän Blossom in diesem Moment nicht. Sein Gesicht war aschfahl und seine Hände klammerten sich immer noch mit aller Kraft an die Reling, obwohl das Schiff längst aufgehört hatte, unter seinen Füßen zu zittern. In seinen Ohren gellten noch immer die schier unmenschlichen Schreie der Männer, die das Ungeheuer in die Tiefe gezerrt und die die Wände verschlungen hatten. Und er wusste, dass er diese Schreie nie wieder ganz loswerden würde.
So wenig wie das Bild des Fremden mit der weißen Strähne im Haar, der ihn und die anderen gerettet hatte. Blossom war noch immer nicht sicher, ob er ihn wirklich gesehen hatte oder nicht, ob es ihn überhaupt gegeben hatte. Aber so absurd ihm dieser Gedanke auch selbst vorkommen mochte – gleichzeitig war er auch vollkommen sicher, dass er diesen Mann irgendwann einmal wiedersehen würde.
19. Februar 1893
Blossoms Bericht hatte weit über eine Stunde gedauert, zumal er vor Erschöpfung mehrere kurze Pausen hatte einlegen müssen. Zweimal war seine Haushälterin während dieser Zeit ins Zimmer gekommen und hatte uns aufgefordert ihn endlich in Ruhe zu lassen und zu gehen, doch er hatte sie barsch wieder hinausgeschickt.
Was ich gehört hatte, erschreckte mich nicht ganz so stark, wie zu erwarten gewesen wäre. Dafür war in den letzten Tagen bereits zu viel passiert und ich hatte Zeit genug gehabt mich damit abzufinden, dass meine uralten Feinde wieder aktiv geworden waren. Außerdem hatte ich bereits während meines Ausflugs in das Labyrinth vermutet, dass es sich um nichts anderes als die Katakomben der Felseninsel handelte, und wenn ich auch immer noch keine Ahnung hatte, wie dies geschehen war, so hatte mich spätestens die Begegnung mit den Marinesoldaten argwöhnen lassen, dass mich der Weg durch den Wandschrank nicht nur an einen mehrere Meilen entfernten Ort, sondern auch um mehrere Monate in die Vergangenheit geführt hatte.
Als er zu diesem Teil seiner Geschichte kam, musterte mich Blossom immer wieder unschlüssig und ich spürte auch Howards teils neugierige, teils verärgerte Blicke, die ich mit einem entschuldigenden Schulterzucken beantwortete.
»Wie Sie schon wissen, musste ich mich anschließend einer Anhörung vor dem Marineausschuss unterziehen«, schloss Blossom seinen Bericht. »Ich log und blieb bei meiner Darstellung, dass die Männer durch einen Erdrutsch verschüttet wurden. Niemand konnte mir das Gegenteil beweisen, sodass ich von jeder Schuld frei gesprochen wurde. Niemand erfuhr jemals, was wirklich geschehen war, aber ich, ich kannte die Wahrheit. Was ich damals erlebt habe, hätte ausgereicht, die meisten Menschen in den Wahnsinn zu treiben.«
»So wie Ihre beiden Begleiter, die mit Ihnen aus dem Labyrinth entkommen sind«, warf ich ein.
Blossom nickte. »Ja, leider. Beide wurden nicht damit fertig, was passiert war. Kent verlor den Verstand und wurde in ein Sanatorium eingewiesen, in dem er auch heute noch sitzt. Simmons schnitt sich selbst die Kehle durch, einen Tag bevor er vor dem Ausschuss vernommen werden sollte.« Blossom senkte den Blick und schüttelte seinen Kopf. »Auch ich war vor Angst fast wahnsinnig und mehr als einmal war ich selbst nahe dran, meinem Leben ein Ende zu setzen, Gott möge mir verzeihen. Aber ich tat es nicht. Sehen Sie, ich wurde streng christlich erzogen und wie Sie wohl wissen, gilt Selbstmord als eine der schlimmsten Todsünden. Ich … ich konnte es einfach nicht tun, aber ich konnte auch mein Leben nicht wie zuvor fortsetzen. Ich reichte meinen Abschied ein und seither verkroch ich mich hier. Bis heute habe ich mit niemandem darüber gesprochen, was damals geschah. Ich verstehe es immer noch nicht.«
Ich erkannte die unausgesprochene Frage in seinen letzten Worten und auch Howard spießte mich mit seinen Blicken mittlerweile regelrecht auf. Ihm war anzusehen, dass er vor Neugier fast platzte. Spätestens sobald wir wieder allein waren, würde ich ihm erzählen müssen, was in der letzten Nacht passiert war, also konnte ich es auch direkt jetzt machen. Ich bezweifelte, dass Blossom mir glauben würde, aber vielleicht würde es ihm trotzdem ein wenig helfen, auch den Rest der Geschichte zu erfahren.
Ich begann, indem ich ihm mit möglichst knappen Worten das Wichtigste schilderte, was ich über die GROSSEN ALTEN wusste, und erzählte kurz von meinem seit Jahren währenden Kampf gegen sie und ihre Dienerkreaturen. Mein Bericht wies gewaltige Lücken auf, sonst hätte ich mindestens
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