Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
hatte in all diesen Jahren kein Echo hier gegeben. Diese Umgebung, so trist und deprimierend sie auch sein mochte, hatte ihm auch niemals Angst gemacht. Jetzt tat sie es – nun ja, zumindest beinahe. Und er war ziemlich sicher, dass es an diesem neuen Gefangenen lag, den er jetzt durch die kleine, vergitterte Klappe in der Zellentür beobachtete.
Dabei war an seinem Äußeren absolut nichts Besonderes – sah man davon ab, dass er seit dem gestrigen Vormittag, als man ihn hergebracht hatte, vollkommen reglos auf seinem Bett hockte und ins Leere starrte. Aber auch das war eigentlich nichts Besonderes. In diesem Teil des Gefängnisses waren nicht die wirklich schweren Jungs untergebracht. Oskins bewachte die meiste Zeit Untersuchungsgefangene oder einfach Trunkenbolde, die über die Stränge geschlagen hatten, und viele von ihnen waren zum ersten Mal im Leben im Gefängnis. Das führte oft zu einer Art Schock, sodass Oskins den Anblick von wie erstarrt dasitzenden Männern eigentlich gewohnt sein musste.
Aber an dem hier war etwas anders. Oskins konnte nicht sagen, was, aber das Gefühl war so deutlich, dass er es fast meinte anfassen zu können. Irgendetwas Unheimliches ging von dieser Gestalt aus. Vielleicht, überlegte er, lag es an dem, was man ihm über diesen Mann erzählt hatte. Der Bursche war nicht nur ein Mörder, er war auch vollkommen verrückt – angeblich hatte er einen städtischen Beamten zu Tode gebissen und anschließend versucht, sein Blut zu trinken. Oskins Meinung nach gehörte er nicht einmal ins Gefängnis, sondern in die Klapsmühle.
Doch auch das war es nicht allein. Da war noch etwas. Etwas, das …
Nein. Er konnte es nicht in Worte fassen und er wollte es auch gar nicht. Mit einer entschlossenen Bewegung schloss er die Klappe und trat mit einem Ruck von der Tür zurück, um seinen Rundgang fortzusetzen – der zwar völlig sinnlos, aber Vorschrift war; und seit mehr als zwei Jahrzehnten so sehr Teil von Oskins’ täglicher Routine war, dass er längst aufgehört hatte, sich Gedanken darüber zu machen, warum er eigentlich tat, was er tat.
Aber auch an diesem Teil seines normalen Tagesablaufes war heute nichts normal. Mehr als die Hälfte der zweiundzwanzig Zellen, die zu Oskins »Revier« gehörten, stand leer – London erlebte gerade eine ruhige Zeit, was die Kriminalität anging und selbst die wenigen Insassen des Untersuchungsgefängnisses gehörten eher zur harmlosen Sorte, abgesehen von dem Verrückten, verstand sich. Aber sie waren nervös. Einige liefen unruhig in ihren Zellen auf und ab, andere saßen auf ihren Betten und starrten Oskins feindselig an, wenn sie das Geräusch der Klappe hörten, und einer nahm gar seinen Trinkbecher und schleuderte ihn nach ihm. Das Gefäß prallte harmlos gegen das Gitter und fiel verbeult zu Boden. Oskins schloss die Klappe hastig wieder. Normalerweise hätte er ein solches Verhalten sofort und angemessen hart geahndet, aber er spürte auch irgendwie, dass diese Aggressivität gar nicht ihm persönlich galt. Nein, etwas stimmte hier nicht. Das ganze Gefängnis schien Kopf zu stehen, seit dieser neue Gefangene eingeliefert worden war.
Auch seine beiden Kollegen, die in der Wachstube auf ihn warteten, waren heute ungewöhnlich nervös. Sie waren es bereits gewesen, als er zu seinem Rundgang aufgebrochen war, und daran hatte sich nichts geändert, als er zurückkam. Paul, der Jüngere von beiden, sah ihm nur nervös entgegen, aber sein älterer Kollege Mark fragte:
»Was macht er?«
Oskins musste nicht zurückfragen, um zu wissen, wen Mark meinte. Es gab seit dem gestrigen Tag nur ein Gesprächsthema hier im Gefängnis: ihren unheimlichen Neuzugang. »Er sitzt auf dem Bett und starrt Löcher in die Luft«, antwortete er. »Genau wie gestern. Und wahrscheinlich noch in drei Jahren, wenn ihn niemand weckt.«
»Kaum«, antwortete Mark. Auf Oskins fragenden Blick hin machte er eine Kopfbewegung zur Tür und fuhr fort: »Der Direktor war gerade hier – du hast ihn nur knapp verpasst. Hasseltime wird gleich abgeholt.«
»Abgeholt? Wohin?«
»Wo er hingehört.« Paul tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »In die Klapse. Ehrlich gesagt, ich bin froh, wenn er weg ist. Man muss sich das mal vorstellen – er hat versucht, das Blut dieses armen Burschen zu trinken. Hält sich anscheinend für einen Urenkel von Varney, dem Vampir, wie?«
Der letzte Satz hatte wohl scherzhaft klingen sollen, aber er erreicht damit das genaue
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