Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
zweiundzwanzig Bücher dafür benötigt, noch bevor ich zu den aktuellen Ereignissen gekommen wäre; insbesonders meinen fast fünfjährigen Tod ließ ich aus, um meiner Geschichte nicht auch noch den letzten Rest Glaubwürdigkeit zu nehmen. Was ich erzählte, war auch so schon schwer genug zu verdauen. Blossom hörte mir mit ausdruckslosem Gesicht zu, das nicht erkennen ließ, was er dachte und fühlte, doch ich bemerkte, dass sich das furchtsame Funkeln in seinen Augen mehr und mehr verstärkte.
Schließlich kam ich auf die Ereignisse der vergangenen Nacht zu sprechen. Ich berichtete, wie ich durch den Wandschrank in meinem Hotelzimmer gegangen und in das Labyrinth gelangt war, verschwieg jedoch auch nicht, dass ich für das Geschehen selbst keine Erklärung hatte.
Diesmal erzielte ich eine Reaktion bei Blossom: Er war unverkennbar enttäuscht.
Nachdem ich geendet hatte, herrschte für mehrere Minuten Schweigen, bis Blossom sich schließlich räusperte.
»Ich weiß nicht, was ich von alldem halten soll, meine Herren«, sagte er. Seine Stimme klang müde, kraftlos. »Und ich will es auch gar nicht wissen. Ich denke, Sie sollten jetzt gehen.« Er griff nach dem Stein auf dem Tisch und hielt ihn mir entgegen. »Nehmen Sie ihn, Mister Craven. Ich habe ihn seit damals verwahrt. Dutzende Male wollte ich ihn schon wegwerfen, aber ich habe es nie über mich gebracht, obwohl er mir vom ersten Tag an Angst eingeflößt hat. Ich glaube, bei Ihnen ist er besser aufgehoben als bei mir. Und ich bin ihn endlich los.«
Ich nickte und steckte den Stein wortlos ein. Wir verabschiedeten uns von Blossom. Ich bedauerte, dass ich ihm nicht hatte helfen können, ihm vielleicht sogar nur noch größere Angst bereitet hatte, doch ich hoffte, dass dies nicht der Fall war.
Als wir das Zimmer verließen, traf uns ein verächtlicher Blick seiner Haushälterin. »Sind Sie jetzt endlich zufrieden?«, zischte sie vorwurfsvoll. »Warum lassen Sie dem alten Mann nicht seine Ruhe? Sie sehen doch, dass es ihm nicht gut geht.«
Schweigend verließen wir das Haus und kehrten zu unserer Kutsche zurück. Auch während der ersten Minuten der Fahrt herrschte Schweigen. Sowohl Howard wie auch ich starrten zu verschiedenen Seiten aus den Fenstern.
»Ich frage mich, was wir Cohen sagen sollen«, murmelte er schließlich.
»Ich schlage vor, wir bleiben bei der bisherigen Darstellung und behaupten, Blossom hätte uns nichts Neues erzählt«, erwiderte ich nach kurzem Zögern. Es war bereits später Vormittag, dennoch schien es, als ob die Dämmerung an diesem Tag überhaupt nicht weichen wolle. Der Himmel hing voller dunkler Wolken und die Luft roch nach Schnee. Der nach dem eher milden Regenwetter der letzten Tage bereits überwunden geglaubte Winter schickte sich an, noch einmal mit aller Macht zurückzukehren. Auch in der Kutsche war es so kalt, dass ich trotz meines dicken Wollmantels fröstelte. »Die Wahrheit würde Cohen uns sowieso nicht glauben.«
»Vorausgesetzt, es handelt sich auch wirklich um die Wahrheit. Die ganze Wahrheit«, fügte er betont hinzu.
Die Spitze entging mir keineswegs. Howard war noch immer ein wenig beleidigt, dass ich ihm die Ereignisse der vergangenen Nacht verschwiegen hatte, und ich konnte ihm das nicht einmal verdenken.
»Es tut mir Leid, Howard«, sagte ich kleinlaut. »Ich hätte es dir erzählen sollen, ich weiß, aber es war wenig Zeit und ich dachte, es wäre nicht nötig.«
»Nicht nötig?!«, ächzte Howard.
»Ach verdammt, ich … ich hatte einfach Angst davor«, gestand ich. »Kannst du das nicht verstehen? Howard, ich … ich bin mein ganzes Leben lang vor diesen Dingen davongerannt und jetzt … jetzt habe ich ein zweites Leben geschenkt bekommen und -«
»Das hast du nicht«, sagte Howard. »Niemand bekommt etwas geschenkt. Und es gibt Dinge, vor denen kann man nicht wegrennen. Das solltest du am besten wissen.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich. »Hat Viktor etwa nicht -«
»Frankenstein«, unterbrach mich Howard betont, »hat deinen Körper geheilt. Aber er ist kein Zauberer. Er weiß viel, aber das Geheimnis des Lebens kennt auch er nicht.«
»Was soll das heißen?«, fragte ich erschrocken. »Wenn nicht er, wer hat dann -«
»Ich behaupte nicht, dass es so ist«, unterbrach mich Howard. »Aber ich glaube, dass du aus einem ganz bestimmten Grund zurückgeschickt worden bist. So etwas wie Zufall gibt es nicht. Du und ich, wir haben hier eine Aufgabe zu erfüllen, Robert. Und du weißt das.«
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