Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
sein mochte, Tatsache blieb, dass dieser eine Krebs sich deutlich anders verhielt und seine Eigenart in einer übernatürlichen Langlebigkeit gipfelte.«
Und da etwas Derartiges »nach einem Namen« verlangt, tauft Cheng den Krebs »Batman« – und erhebt ihn, wenn auch unwissentlich, zur Titelfigur des sich abspielenden Romans.
Die Vermischung des Menschlichen (Architekt und Baumeister) mit dem Tierischen (Krebs), des Tierischen mit dem Maschinenhaften (Sportflugzeug), des Maschinenhaften wieder mit dem Menschlichen (Eiskunstläufer), die Verzerrung der Proportionen, die Vermengung des zu Großen (Turm) mit dem zu Kleinen (Krebschen) – all dies sind ja Kennzeichen eines durchaus altehrwürdigen Stils, der Groteske nämlich, die immer schon ein grundlegendes Bauelement der phantastischen Literatur gewesen ist. Auch legt Steinfest in dieser Passage offen, dass die Welt zunächst nicht die objektive Welt ist, sondern ihre subjektive Deutung durch den Menschen. Der Mensch aber liebt es, sich in allem zu spiegeln oder gespiegelt zu sehen.
Ohne die durchaus eng definierte Wirklichkeit zu verlassen – das Wasserbecken, in dem die Krebschen hausen –, entfaltet sich vor seinen Augen ein staunenswerter Mikrokosmos. An sich ist dort nichts als Natur; aber die verbalen Intarsien – das Stollensystem und das submarine Sportflugzeug, die Eiskunstläuferin, wo kein Eis ist, die Wunde und
ihre Heilung, mittels derer die Festungsarchitektur saniert und beseelt wird – verwandeln die Unterwasserlandschaft in einen blühenden Maschinenpark, eine technomorphe Gegenwelt. Um dem Phantastischen zu begegnen, muss Cheng keinen Fuß aus seiner Wohnung setzen.
Man könnte meinen, dass sich in diesem Cheng – Cheng, dem Betrachter – sein geistiger Vater Heinrich Steinfest spiegelt, dem ja auch eine besondere Häuslichkeit nachgesagt wird. Oder besser: der sich diese Häuslichkeit selbst nachsagt …
F: Sie bezeichnen sich als »Nesthocker«, Herr Steinfest, als ortstreuen Menschen.
A: Überhaupt treu. Ich finde die Treue sehr viel bequemer und charmanter und befriedigender als die Untreue. Das ist also keine moralische Entscheidung. Ich bin nicht darum treu, weil mir die Untreue anstößig erscheint, sondern ich finde sie anstrengend und unförmig. Hässlich, aber hässlich in einem ästhetischen Sinn.
F: Sie leben in Stuttgart, jener Stadt, über deren Einwohner Sie im Jahr 2004 einmal gesagt haben: »Die Stuttgarter wollen alles, nur nicht als liebenswert gelten.« Warum also Stuttgart?
A: Warum Zigaretten? Ja, richtig, es heißt, sie machen krank. Aber sie bereiten auch einen großen Genuss und fördern die Konzentration. Denn im Grunde ist alles eine Frage der Dosis. Bei aller Liebe zu Stuttgart bemerke ich, dass es besser ist, manchmal auch Distanz zu wahren. Der »Nesthocker« muss sein Nest kennen und schätzen, aber es sollte ihm nicht zum Gefängnis werden. Wien zum Beispiel erschien mir lange als Gefängnis. Und ich bin natürlich froh, freigekommen zu sein. Darum muss ich aufpassen, dass mir das mit Stuttgart nicht auch passiert.
F: Mit derart vielen Krimipreisen ausgezeichnet, wird man Sie als Kriminalschriftsteller bezeichnen dürfen. Was fasziniert an Verbrechen oder am Verbrecher – falls das eine vom anderen zu trennen ist? Hat das Verbrechen so etwas wie einen utopischen Kern?
A: Das ist wie beim Abenteuerroman. Man bleibt zu Hause gemütlich im Sessel sitzen, macht eine Flasche Wein auf, dreht die Heizung an und dann liest man von Leuten, die zum Nordpol marschieren, auf die höchsten Berge klettern, Dämonen bekämpfen oder ewig lange durch ein im Grunde ungemütliches Universum sausen. So ist das auch mit dem Roman, der das Verbrechen beschreibt. Der Leser taucht in eine gefährliche Welt und kriegt keinen Kratzer ab. Das ist Eskapismus, aber er bringt uns andererseits auch ganz nahe an unser tatsächliches Wesen heran. Wir flüchten praktisch in die eigenen Arme.
F: Die nächste Frage klingt vielleicht peripher, aber sie geht an den Autor, der 1997 einen Roman mit dem Titel »Der Nachmittag des Pornographen« geschrieben hat und in »Gewitter über Pluto« einen Ex-Pornostar zur Hauptfigur macht – der dann allerdings zum Pulloverstricken konvertiert: Gehört (und inwieweit, gegebenenfalls) für Sie die Pornografie zur phantastischen Kunst?
A: Gar nicht peripher. Auch wenn man im ersten Moment natürlich verführt ist, einen Witz zu machen, so darf dennoch gesagt werden, dass
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