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«Hier liegen meine 30 000 Juden begraben.» Mit ausladender Geste umfasst er die gesamte Schlucht, diesen gigantischen brodelnden Bauch.
Wenn das so weitergeht, bringen ihn die Toten von Babi Yar gänzlich zum Durchdrehen. Er pfeift bereits auf dem letzten Loch, als er eine Reise nach Berlin antritt, um Heydrich persönlich um seine Versetzung zu bitten. Der Chef des RSHA empfängt ihn entsprechend: «Na, einen Bauch haben Sie sich noch nicht angefressen. Sie sind ein Weichling und gegebenenfalls noch in der Porzellanhandlung zu verwenden … wenn ich überhaupt noch Rücksicht nehme. Ich werde Sie aber mit der Nase noch tiefer hineinstecken.» Ich weiß nicht, ob das wörtlich gemeint war. Jedenfalls gewinnt Heydrich schnell die Fassung zurück. Der Mann ihm gegenüber ist nur noch ein Wrack, ein stockbesoffenes noch dazu, und somit nicht mehr in der Lage, die ihm anvertraute Aufgabe zu erfüllen. Es wäre sinnlos und gefährlich, ihn gegen seinen Willen weiterhin auf seinem Posten zu belassen. «Sie melden sich sofort bei dem Gruppenführer Müller und sagen ihm, dass Sie Urlaub haben wollen. Er wird Sie Ihres Kommandos in Kiew entheben.»
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Das Arbeiterviertel Žižkov im Osten von Prag besitzt die größte Ansammlung von Bars in der ganzen Stadt. Außerdem gibt es dort eine Vielzahl von Kirchen, wie es sich für eine Hauptstadt gehört, die den Beinamen «Stadt der hundert Türme» trägt. Der Priester eines dieser Gotteshäuser erinnert sich an ein junges Paar, das ihn aufsuchte, «als die Tulpen in Blüte standen». Der kleine Mann hatte einen durchdringenden Blick und schmale Lippen. Das junge Mädchen war charmant, sprühte nur so vor Lebenslust. Sie wirkten verliebt. Sie wollten heiraten, allerdings nicht sofort. Sie wollten einen ganz bestimmten Termin reservieren: «zwei Wochen nach Kriegsende».
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Ich frage mich, woher Jonathan Littell wissen konnte, dass Blobel, der versoffene Verantwortliche des Sonderkommandos 4a der Einsatzgruppe C in der Ukraine, einen Opel besaß. Sollte Blobel tatsächlich Opel gefahren sein, verneige ich mich hiermit. Ich gebe zu, dass Littells Recherchen meine übertreffen. Doch sollte er nur bluffen, gerät dadurch sein gesamtes Werk ernsthaft ins Wanken. Es stimmt, dass sich die Nazis massiv bei Opel ausstatteten, daher ist es wahrscheinlich , dass Blobel ein Auto dieser Marke besaß oder darüber verfügte. Doch wahrscheinlich ist nicht erwiesen. Ich schwafle gerade ziemlich kindisches Zeug, nicht wahr? Die Leute, denen ich davon erzähle, halten mich für besessen. Sie verstehen das Problem nicht.
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Valčík und Ata, der junge Sohn der Familie Moravec, sind soeben wie durch ein Wunder einer Polizeikontrolle entgangen, die mit dem Tod zweier Fallschirmspringer endete. Sie fanden beim Hausmeister der Familie Unterschlupf, dem sie von ihrem Missgeschick berichteten. Ich könnte mehr darüber erzählen, doch ich frage mich, wozu eine weitere Szene wie aus einem Spionageroman nötig sein sollte. Zeitgenössische Romane basieren auf Ökonomie, so ist es nun einmal, und dieser knauserigen Logik wird auch mein Roman sich nicht vollständig entziehen können. Es reicht zu wissen, dass die beiden Männer dank Valčíks Fähigkeit, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Situation exakt einzuschätzen, nicht festgenommen und getötet wurden.
Valčík macht sich den starken Eindruck zunutze, den ihr Abenteuer und er selbst bei dem Jugendlichen hinterlassen haben, und bläut ihm für alle Fälle Folgendes ein:
«Siehst du diese Holztruhe, Ata? Die deutschen Schweinehunde können sie schlagen, bis sie anfängt zu plaudern. Aber du darfst bei einer solchen Behandlung nichts verraten, gar nichts, verstehst du?»
Das wiederum sind zwei Sätze, die trotz der gebotenen erzählerischen Sparsamkeit dieser Geschichte nicht überflüssig sind.
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Wie man sich denken kann, haben mich das Erscheinen und der Erfolg von Jonathan Littells Buch ein wenig verunsichert. Auch wenn ich mich zu beruhigen versuche, indem ich mir sage, dass wir nicht dasselbe Projekt verfolgen, muss ich zugeben, dass unsere Thematik eng beieinanderliegt. Ich bin gerade dabei, das Buch zu lesen, und habe bei jeder Seite den Impuls, Kommentare dazu abzugeben. Ich muss diesen Reflex unbedingt unterdrücken. Ich werde nur erwähnen, dass am Anfang des Buches ein Porträt von Heydrich abgebildet ist. Und ich werde nur einen einzigen Satz daraus zitieren: «Seine Finger wirkten viel zu lang, als endeten seine
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