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möchte den Abbau beschleunigen. Die zahlreichen unangetasteten Vorkommen, die noch unter der Erde ruhen, rauben ihm den Schlaf. Er braucht mehr Arbeitskräfte. Und die Tschechen sind Bauern, keine Minenarbeiter.
Nachdenklich betrachtet Ottokar seine Stadt Prag. Aus der Höhe seiner Burg blickt er auf die Märkte, die sich um die gigantische Judithbrücke gruppieren, eins der ersten Steinbauwerke, die die alten, hölzernen Bauten ersetzen. Sie befindet sich an derselben Stelle wie später die Karlsbrücke, die von der Altstadt zum Burgviertel des Hradschin führt, das damals noch nicht zur Kleinseite (Malá Strana) gehörte. Kleine bunte Punkte bieten geschäftig ihre vielseitigen Waren feil: Stoffe, Fleisch, Obst und Gemüse, Schmuck, Metallarbeiten. All diese Händler sind Deutsche, das weiß er. Die Tschechen sind ein Volk von Landarbeitern, keine Stadtmenschen, und vermutlich überkommt den Regenten ein Gefühl des Bedauerns, wenn nicht sogar der Abneigung. Ottokar weiß auch, dass in erster Linie die Städte für das Ansehen eines Königreichs verantwortlich sind und dass ein Adliger, der diese Bezeichnung verdient, sich nicht mit seinen Ländereien zufriedengibt, sondern auch einen Hofstaat um sich schart. Zu jener Zeit ist man überall in Europa bemüht, das Modell des französischen Hofes nachzuahmen, und auch an Ottokar geht der Einfluss der französischen Ritterlichkeit nicht spurlos vorüber. Doch Frankreich ist für ihn weit entfernt und somit reichlich abstrakt. Wenn Ottokar an das edle Konzept des Rittertums denkt, hat er automatisch die teutonischen Reiter vor Augen, weil er während des Kreuzzugs von 1255 in Preußen an ihrer Seite gekämpft hat. Hat er nicht selbst mit seiner Schwertspitze Königsberg gegründet? Ottokar ist ganz von Deutschland eingenommen, weil die deutschen Höfe seiner Ansicht nach zugleich vornehme Adligkeit und Modernität verkörpern. Um sein Königreich davon profitieren zu lassen, beschließt er gegen die Ratschläge seines höfischen Beraters und vor allem gegen die Meinung seines Kanzlers, des Propstes von Vyšehrad, eine umfassende Politik deutscher Einwanderung in Böhmen einzuläuten, die er durch das Bedürfnis nach Arbeitskräften für seine Minen gerechtfertigt sieht. Er plant, Hunderttausende deutscher Siedler zu mobilisieren, die sich in seinem schönen Land niederlassen sollen. Indem er sie bevorzugt behandelt, ihnen steuerliche Vorteile einräumt und Ländereien zuschanzt, erhofft sich Ottokar, Verbündete zu gewinnen, die den Einfluss der heimischen Adelsgeschlechter – der Ryzmburgs, Víteks und Falkenšteins – abschwächen. Diese erscheinen ihm immer noch als zu bedrohlich und gierig und rufen in ihm Misstrauen und Abneigung hervor. Die Geschichte wird zeigen, dass seine Strategie mit dem Aufstieg und zunehmendem Einfluss der deutschen Patrizier zunächst in Prag, in Iglau und in Kutná Hora, dann in ganz Böhmen und Mähren geradezu perfekt aufgeht, selbst wenn Ottokar nicht mehr lang genug leben wird, um die Früchte seiner Arbeit zu ernten.
Doch auf lange Sicht handelte es sich trotzdem um eine ausgesprochen schlechte Idee.
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Am Tag nach dem Anschluss überrascht Deutschland mit einer Fülle beschwichtigender Mitteilungen an die Tschechoslowakei: Sie habe keinesfalls einen bevorstehenden Angriff zu befürchten, auch wenn die Annexion Österreichs bei den Tschechen verständlicherweise das Gefühl aufkommen lasse, umzingelt zu sein.
Um unnötige Spannungen zu vermeiden, erfolgt tatsächlich eine Anweisung an die deutschen Truppen, die in Österreich einmarschieren, überall einen Mindestabstand von fünfzehn bis zwanzig Kilometern zur tschechischen Grenze einzuhalten.
Doch unter den Sudetendeutschen löst die Neuigkeit vom Anschluss eine Welle der Begeisterung aus. Schon kurze Zeit später spricht man über nichts anderes mehr als über das ultimative Hirngespinst: den Anschluss ans Reich. Es wird demonstriert und provoziert, was das Zeug hält. Ein gemeinschaftliches Gefühl der Verschwörung hängt in der Luft. Flugblätter und Propagandaschriften wandern von Hand zu Hand. Die deutschen Beamten und Angestellten widersetzen sich systematisch den Anweisungen der tschechoslowakischen Regierung, die darauf abzielen, der Separatistenbewegung Einhalt zu gebieten. In den deutschsprachigen Zonen nimmt der Boykott der tschechischen Minderheit nie gekannte Ausmaße an. Beneš erzählt später in seinen Memoiren, wie verblüfft er über den romantischen
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