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HHhH

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Titel: HHhH Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Binet Laurent
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Frankreich und England den Diktator für den Augenblick seiner Chance beraubt, sein wahres Ziel in die Tat umzusetzen: die Tschechoslowakei nicht bloß zu entzweien, sondern sie zu «zerschlagen», das heißt, sie dem Reich als Provinz einzuverleiben. Sieben Millionen Tschechen gegenüber 75 Millionen Deutschen … aufgeschoben ist nicht aufgehoben …

74
    1946 wollte der Repräsentant der Tschechoslowakei während der Nürnberger Prozesse von Keitel, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), wissen, ob das Reich die Tschechoslowakei 1938 angegriffen hätte, wenn die westlichen Mächte Prag unterstützt hätten. Keitel antwortete, dass man es mit Sicherheit nicht getan hätte, weil das Reich militärisch nicht stark genug gewesen wäre.
    Hitler mag momentan herumtoben. Doch Frankreich und England haben ihm eine Tür aufgeschlossen, für die er keinen Schlüssel gehabt hätte. Mit ihrer Gefälligkeit haben sie ihn geradezu ermutigt, noch einen Schritt weiter zu gehen.

75
    Hier im Bürgerbräukeller in München nahm vor fünfzehn Jahren alles seinen Anfang. Doch der heutige Abend gleicht nicht unbedingt einer Gedenkfeier, obwohl dreitausend Leute angereist sind. Auf der Tribüne folgt ein Redner auf den nächsten, und jeder ruft zur Vergeltung auf. Vorgestern hat ein 17-jähriger Jude einen Sekretär der deutschen Botschaft getötet, weil sein Vater kurz zuvor nach Polen deportiert worden war. Heydrich ist gut genug unterrichtet, um zu wissen, dass der Verlust nicht allzu groß ist: Der Botschaftssekretär war wegen seiner antinazistischen Einstellung von der Gestapo beschattet worden. Doch dieses Ereignis sollte man sich zunutze machen. Goebbels hat ihm die Organisation einer Großaktion übertragen. Während der Abend seinen Höhepunkt erreicht, diktiert Heydrich seine Anweisungen: In der Nacht sollen «spontane» Kundgebungen stattfinden. Alle Stellen der Staatspolizei sollen mit den Partei- und SS-Führern Kontakt aufnehmen. Die stattfindenden Demonstrationen sollen von der Polizei nicht verhindert werden. Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (Synagogen dürfen beispielsweise nur in Brand gesteckt werden, wenn für die angrenzenden Gebäude keine Brandgefahr besteht). Jüdische Geschäfte und Wohnungen dürfen zerstört, aber nicht geplündert werden. Es sind so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, wie in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können. Nach Durchführung der Festnahme ist unverzüglich mit den zuständigen Konzentrationslagern Verbindung aufzunehmen, um die Juden dort so schnell wie möglich zu internieren. Heydrichs Anweisung wird nachts um ein Uhr zwanzig per Fernschreiber übertragen.
    Die SA hat sich bereits auf den Weg gemacht, die SS folgt ihr auf Schritt und Tritt. In den Straßen von Berlin sowie in allen großen Städten Deutschlands werden die Schaufenster jüdischer Geschäfte zertrümmert und die Möbel aus den Fenstern jüdischer Wohnungen geschmissen; die Juden selbst werden misshandelt, festgenommen oder umgebracht. Auf der Straße zerschellen Schreibmaschinen, Nähmaschinen und sogar Klaviere. Die Ausschreitungen dauern die ganze Nacht. Die ehrbaren Bürger verbarrikadieren sich im eigenen Haus, die neugierigeren unter ihnen wohnen dem Spektakel bei, ohne einzuschreiten, wie stille Phantome, deren Schweigen nicht zu deuten ist – zustimmend, missbilligend, ungläubig, zufrieden. Irgendwo in Deutschland klopft man an die Haustür einer 81-jährigen Dame. Als sie den SA-Leuten die Tür öffnet, ruft sie: «Oh, ich habe heute Morgen hohen Besuch!» Doch als die SA-Leute sie auffordern, sich anzuziehen und ihnen zu folgen, setzt sie sich aufs Sofa und verkündet: «Ich werde mich weder anziehen noch irgendwo hingehen. Machen Sie mit mir, was Sie wollen.» Und als sie wiederholt: «Machen Sie mit mir, was Sie wollen», zieht der Truppenvorsteher seinen Revolver und schießt ihr in die Brust. Sie sinkt auf dem Sofa zusammen. Er zielt ein zweites Mal und schießt ihr in den Kopf. Sie fällt vornüber vom Sofa. Doch sie ist noch nicht tot. Ihr Blick ist auf das Fenster gerichtet, und sie gibt ein leises Röcheln von sich. Daraufhin schießt der Truppenchef zum dritten Mal auf sie, mitten in die Stirn, aus zehn Zentimetern Entfernung.
    Andernorts klettert ein SA-Mann auf das Dach einer geplünderten Synagoge, schwenkt mehrere Thora-Rollen und skandiert: «Wischt

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