Hi, Society
Liste ab, lege die kleine Karte aus geprägtem Leinenpapier auf den Erledigt-Stapel und ziehe die nächste. Es ist ein riesiger Karton mit 300 entzückenden kleinen Schildchen, das heißt, ich werde vermutlich noch die nächsten Stunden damit beschäftigt sein, was mir aber gar nichts ausmacht. Nein, ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es mir unter den gegebenen Umständen das Leben rettet, denn wenn ich nämlich bloß länger über meine Situation nachdenken würde, wäre das vermutlich lebensgefährlich.
Da sind die Tatsachen, dass ich von Erik nicht nur betrogen wurde, sondern seit meiner Flucht aus Hawaii zudem keinen Piep gehört habe und ich zeitgleich meine Familie in dem unberechtigten Glauben lasse, es sei alles eitel Wonne und Erik spätestens zur Hochzeit wieder zurück, noch die kleineren Übel. Verschleierung der Tatsachen, Zensur, Unaufrichtigkeit – das sind juristisch betrachtet Kinkerlitzchen, gegen die man bestenfalls emotional belangt werden kann. Illegaler Besitz sowie die Unterschlagung von Beweismitteln im Zusammenhang mit einem Verbrechen sowie illegaler Waffenbesitz hingegen, auch wenn es sich dabei konkreterweise weniger um eine Pistole als einen Parfumflakon handelt, das kann im besten Fall eine Verwaltungsstrafe, im schlimmsten Fall lebenslänglich bringen – meint zumindest www.gutefrage.net.
Aber mal ehrlich, was bleibt mir auch anderes übrig? Mein Verdacht, dass Orlow etwas mit Maries Ableben zu tun haben könnte, war ein Schuss in den Ofen. Die Stiletto-Diebe hatten sich vermutlich samt den Schuhen ins Ausland abgesetzt. Zumindest fand die Polizei bloß eine leere Wohnung, von deren Bewohnern noch immer jede Spur fehlt, und meine bisherige juristische Vertretung alias Ehemann amüsiert sich derweil vermutlich in der Südsee mit Bio-Kokosnüssen, während sein bis dato übliches Stundenhonorar angesichts der gegenständlichen Sachlage für mich schlagartig von Null auf unerschwinglich gestiegen ist. Zudem reichen ein paar Folgen ›Schauplatz Gericht‹ ohnedies aus zu wissen, dass meine Situation nicht eben schmeichelnd, sondern vielmehr erschreckend unvorteilhaft ist.
Im Ernst, man muss nicht gerade Miss Marple sein, um zu erkennen, dass meine Geschichte genauso glaubwürdig ist wie Chiara Ohoven, als sie zu ihren Schlauchbootlippen meinte: »Nein, da ist gar nix verändert, das macht vielleicht das helle Blond!« Genauso gut könnte ich sagen: »Nein, ich habe keine Ahnung, warum es der Flakon von Marie von Stetten ist und sich Gift darin versteckt. Alles bloß ein lustiger Zufall. Wirklich, meine Patienten schenken mir andauernd ihre Parfums auf der Operntoilette! Nein, natürlich gibt es keine Zeugen, weil doch Damentoiletten immer wie ausgestorben sind. Das weiß doch jeder!« In der Tat, sehr glaubhaft! Da bleibt kein Zweifel weder an meiner baldigen Haft noch daran, dass unserer Sprache das Wort ›Haft‹ in geradezu schreckhafter Weise anhaftet. Was mir bislang wahrhaft schier entgangen ist und vermutlich jenem Phänomen zugrunde liegt, das man selektive Wahrnehmung nennt und mir eher im Zusammenhang mit Schuhen ein Begriff ist. Aber nun taucht das Wort praktisch überall auf. Ich fühle mich wie in einem Wortminenfeld, ernsthaft! Selbst das Wort ›fabelhaft‹ macht nun keinen Spaß mehr! Zugegeben, das wird eben ein klein wenig zwanghaft! Aber Zwänge haben ja schließlich auch eine gute Eigenschaft, nicht nur hier beim Aussortieren der fehlerhaften Karten – ich sag’s ja, kein Wort ohne Haft. Nein, so rein psychohygienisch betrachtet geben Zwänge einem ein angenehmes Gefühl von Entlastung und sie können wirklich hilfreich sein. Also ich habe zum Beispiel so einen gewissen Alphabetszwang angesichts der außergewöhnlichen Notsituation, in der ich mich befinde, entwickelt. Seit ich hier bin, habe ich das Bücherregal, die eingemachten Marmelade- und Kompottgläser im Keller sowie den Medikamentenschrank alphabetisch geordnet. Meine Mum war ganz begeistert, endlich hat sie ihre Globuli wiedergefunden und die verschollen geglaubten Blutbefunde, und als Nächstes nehme ich mir die Patientenakten in meiner Praxis vor. Ich werde mir ein richtig ausgeklügeltes System überlegen, denke ich, während ich weiter kontrolliere und Karten auf den Erledigt-Stoß ablege. Ein System, das es mir erlaubt, auf einen Blick alles zu erfassen, damit ich keine Zeit mehr verliere mit dem Suchen von Stimmfeldmessungen, Hörtests oder Operationsberichten, die sich irgendwo in
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