Hidden Moon
durchstoßen, mit der Osceola sich tarnte, als wäre darauf das Allerweltsgesicht der kleinen Stadt gemalt. Wenn man diese Membran aber erst einmal »durchschaut« hatte, sah man andere Dinge - nichts wirklich Offensichtliches zwar, aber Dinge, die anders waren als anderswo.
Die Häuser und Gärten waren weniger gepflegt als andernorts, und sie sahen auf eigenartige Weise älter aus, als sie es an Jahren tatsächlich sein mochten. Gleiches galt für die Fahrzeuge, die am Straßenrand oder in Garagenzufahrten parkten. Und es kam noch ein Dutzend weiterer Dinge dazu, für die Lilith die Worte fehlten, sie zu benennen. Aber sie waren da, und in ihrer Gesamtheit schienen sie eines zu zeigen: Daß das Leben in Osceola eine Spur weniger lebendig war, als es auf den ersten Blick schien und als es anderswo war. Selbst die Dunkelheit schien hier von anderer Qualität zu sein: dunkler, seltsam fester und irgendwie mehr als die bloße Abwesenheit von Licht*. In Liliths vampirischer Sichtweise gerann sie stellenweise zu blutiger Röte, die so dicht war, daß sie kaum zu durchdringen war.
»Spürst du das auch?« fragte Lilith. Nachdem es ihr gelungen war, Gedanken und Gefühle halbwegs zu beruhigen (wenn auch nicht richtig zu ordnen), erinnerte sie sich dessen, was ihr schon bei ihrer unmittelbaren Ankunft in der Stadt aufgefallen war. Und daran, daß auch Hidden Moon merklich auf die Veränderung ihrer Umgebung reagiert hatte.
*© by Wolfgang Hohlbein
Der Arapaho nickte. Er hatte den Fuß fast vom Gas genommen. Der Wagen rollte im Schrittempo die im Nieselregen wie gelackt aussehende Straße hinab.
»Beschreibe es«, verlangte Lilith, weil sie hoffte, er könnte die wahren Hintergründe erkennen.
»Es war nicht nur ein Gerücht«, erwiderte Hidden Moon.
»Du meinst ...?«
Wieder nickte er, anders diesmal. Unübersehbar von Unbehagen befallen.
»Der, von dem unser Stamm einst erfuhr, ist mehr als nur eine Legende«, erklärte der Arapaho. Sein Blick glitt wie suchend in jede Richtung. »Es gibt ihn. Er ist hier.«
»Wo ist er? Kannst du ihn . orten?« fragte die Halbvampirin, spürend, daß der rasende Durst in ihr sich erneut Bahn brechen wollte, alles verzehrend, womit sie ihn noch mühsam beherrschte.
»Er ist .«
Hidden Moons Blick flackerte, irritiert und beunruhigt in einem.
». überall!«
*
Lilith folgte der ständig wechselnden Blickrichtung des Arapaho, ohne eine Erklärung für seine seltsame Aussage zu finden.
»Was bedeutet das: überall?« fragte sie verwirrt.
»Ich spüre seine Präsenz, als wäre er an jedem Ort in dieser Stadt zugleich.«
»Das ist nicht möglich«, behauptete Lilith. »Du mußt dich irren. Es sei denn, es wären mehrere, und selbst dann müßten sie ganz in der Nähe sein. Und auch ich müßte sie zumindest sehen können.«
Hidden Moon schüttelte bestimmt den Kopf.
»Es ist ein einzelner. Ich spüre nur . eine einzige Aura. Aber sie ist allgegenwärtig. Sie fließt um uns her wie die Strömung eines ge-waltigen Flusses, der voller Strudel ist. Es ist .«
Lilith bemerkte den Unterton in Hidden Moons Stimme. Er klang mit einemmal gehetzt, gequält, als würde ihn das, was er empfing, zutiefst verwirren - und gegen seinen Willen locken .
Rasch streckte sie die Hand aus, berührte ihn an der Schulter. Der Kontakt kostete sie Überwindung, denn augenblicklich spürte sie das zähe Fließen unter seiner Haut, das die Begierde in ihr von neuem weckte. Dennoch ließ sie ihn nicht los, weil sie sah, wie sein Blick sich unter ihrer Berührung klärte, das unruhige Beben seines Körpers verebbte.
Und noch etwas geschah - etwas schien von ihm auf sie überzugehen. Etwas Dunkles, Unangenehmes .
»Es ist vorbei«, sagte er.
»Was?« fragte sie.
»Ich spüre nichts mehr. Die Präsenz ist verschwunden. Er scheint sich zurückgezogen zu haben«, erklärte der Arapaho, und in seiner Stimme schwang verhalten Erleichterung mit. Er entspannte sich, ein wenig zumindest.
Der Wagen war währenddessen weiter die Main Street entlanggerollt.
Und etwas hatte sich verändert - oder sich vielmehr jenen Dingen hinzugesellt, die auch Lilith schon zuvor wahrgenommen hatte. Etwas, das zu spüren es keiner vampirischen, nicht einmal halb vampirischen Sinne bedurfte. Jeder Mensch, der auch nur über ein Quentchen Sensibilität verfügte, hätte es bemerkt.
Blicke.
Wie die Berührungen kalter Hände auf der Haut.
Lilith fröstelte unwillkürlich und sah sich noch im gleichen Moment um.
Sie standen
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