High Fidelity (German Edition)
Gegend zum Aufwachsen, aber mich hat das nicht gestört. Bis ich so an die dreizehn war, war es nur eine Gegend, in der ich Fahrrad fahren konnte, zwischen dreizehn und sechzehn eine Gegend, in der ich Mädchen kennenlernen konnte. Und mit achtzehn zog ich weg, also habe ich den Ort nur ein Jahr lang als das, was er ist – ein Vorstadtdrecksloch – gesehen und gehaßt. Meine Mum und mein Dad zogen vor etwa zehn Jahren um, als meine Mum zögernd akzeptiert hatte, daß ich fort war und nicht zurückkommen würde, aber sie zogen nur um die Ecke in eine Doppelhaushälfte mit zwei Schlafzimmern, und an ihrer Telefonnummer, ihrem Freundeskreis und ihrem Leben änderte sich nichts.
In Bruce-Springsteen-Songs kann man entweder bleiben und versauern oder ausbrechen und ausbrennen. Das ist okay, schließlich ist er Songwriter und braucht solche simplen Alternativen in seinen Songs. Aber niemand schreibt mal darüber, wie es möglich ist, auszubrechen und zu versauern – daß so ein Ausbruch in die Hose gehen kann, daß man von der Vorstadt in die Großstadt ziehen, aber am Schluß trotzdem ein schlaffes Vorstadtleben führen kann. Genau das ist mir passiert, genau das passiert den meisten Leuten.
Sie sind ganz in Ordnung, wenn man auf so was steht, was bei mir nicht der Fall ist. Mein Dad ist leicht unterbelichtet, aber so was wie ein Klugscheißer, eine ziemlich fatale Kombination. Man erkennt schon an seinem lächerlichen, eitlen Bärtchen, daß er zu der Sorte zählt, die kaum ein geistreiches Wort zu sagen hat und Vernunftsgründen nicht zugänglich ist. Meine Mum ist einfach nur eine Mum, was unter allen anderen Umständen eine unverzeihliche Bemerkung wäre. Sie sorgt sich, nervt mich wegen des Ladens, sie nörgelt darüber, daß ich keine Kinder habe. Ich wünschte, ich würde sie häufiger sehen wollen, aber das tue ich nicht, und wenn mir nichts anderes einfällt, weswegen ich ein schlechtes Gewissen haben kann, dann habe ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Sie werden sich freuen, mich heute nachmittag zu sehen, obwohl mir ganz anders wird, als ich sehe, daß heute nachmittag der kotzblöde Genevieve › Anmerkung im Fernsehen kommt. (Die fünf Lieblingsfilme meines Dads: Genevieve, The Cruel Sea › Anmerkung , Zulu › Anmerkung , Oh! Mr. Porter › Anmerkung , den er zum Kugeln findet, und Die Kanonen von Navarone. Die fünf Lieblingsfilme meiner Mum: Genevieve, Vom Winde verweht, The Way We Were, Funny Girl und Seven Brides for Seven Brothers. Ihr könnt euch jedenfalls ein Bild machen, und ihr werdet euch noch ein besseres Bild machen können, wenn ich euch verrate, daß sie es für Geldverschwendung halten, ins Kino zu gehen, weil die Filme früher oder später doch im Fernsehen laufen werden.)
Als ich ankomme, bin ich der Dumme: Sie sind nicht da. Ich bin an einem Sonntagnachmittag eine Million Haltestellen mit der Metropolitan Line gefahren, habe acht Jahre auf einen Bus gewartet, der kotzblöde Genevieve läuft im Drecksfernsehen, und sie sind nicht da. Sie haben mich nicht mal angerufen, um mir zu sagen, daß sie nicht da sein werden, wobei ich natürlich auch nicht angerufen habe, um meinen Besuch anzukündigen. Wäre ich im geringsten anfällig für Selbstmitleid, was ich durchaus bin, würde ich trübselig über die grausame Ironie, meine Eltern nicht anzutreffen, wenn ich sie endlich mal brauche.
Aber gerade als ich zurück zur Bushaltestelle will, öffnet meine Mum ein Fenster im Haus gegenüber und ruft mir nach.
»Rob! Robert! Komm rüber!«
Ich habe die Leute von gegenüber nie kennengelernt, aber mir wird rasch klar, daß ich damit in der Minderheit bin: Das Haus ist rappelvoll.
»Was wird hier gefeiert?«
»Weinprobe.«
»Doch nicht Dads Selbstgemachter?«
»Nein. Echter Wein. Heute nachmittag ist es australischer. Wir schmeißen alle zusammen, und dann kommt ein Mann und erklärt alles.«
»Ich wußte nicht, daß du dich für Wein interessierst.«
»Oh, ja. Und dein Dad ist begeistert.«
Natürlich ist er das. Es muß die Hölle sein, am Morgen nach der Weinprobe mit ihm zu arbeiten: Nicht wegen der Fahne von schalem Sprit, der blutunterlaufenen Augen oder der griesgrämigen Laune, sondern wegen der ganzen Fakten, die er sich einverleibt hat. Wahrscheinlich bringt er den halben Tag damit zu, Leuten Dinge zu erzählen, die sie nicht hören wollen. Er steht an der anderen Seite des Zimmers und redet auf einen Mann im Anzug ein – der geladene Experte vermutlich –, aus dessen
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