High Heels und Gummistiefel
Hut. So was in der Art.«
Etienne hörte aufmerksam zu.
»Hier dagegen«, fuhr Daisy fort und nahm sich die nächste Bilderserie vor, »wo sie das Ganze in Rom fotografiert haben, ist die Grundidee eigentlich la dolce vita, deswegen auch die Motorroller und die Leute an den Cafétischchen, so wie in diesem berühmten Schwarzweißfilm. Den habe ich zwar nicht gesehen, aber ich weiß, dass es da eine Szene gibt, in der eine Blondine im schwarzen, trägerlosen Kleid in diesen Wahnsinnsbrunnen watet. Die haben sie hier nachgestellt, sehen Sie, mit diesem russischen Model. Die ist im Moment das heißeste Gesicht überhaupt.«
Etienne sah Daisy an und zündete sich eine Zigarette an. »Aber
wie können Sie diese Anspielung erkennen, wenn Sie den Film nicht gesehen haben?«
»Ich sehe den Bezug trotzdem, weil das Ganze ziemlich bekannt ist.«
»Aber andere erkennen diesen Bezug vielleicht überhaupt nicht?«
»Nein, aber sie kriegen trotzdem die Stimmung mit, die die Kleidungsstücke vermitteln. Und natürlich spricht auch der Name des Designers zu den Menschen. Für manche ist das die Story: große Marken, und sonst nichts.«
Während sie Etiennes Profil betrachtete, sann Daisy nur so für sich darüber nach, wie ironisch es doch war, dass er so wenig von der Modewelt wusste. Denn ehrlich gesagt, hätte er nicht beschlossen, ein brillanter Intellektueller zu werden und alle Welt mit seinen Erkenntnissen in Erstaunen zu versetzen, dann hätte er ein umwerfendes Model sein können. Seine Haut war makellos und sein Gesicht wirklich perfekt, mit markantem Kinn und eleganter Nase. Er hatte einen vollen Mund von der Sorte, der auf Fotos bestimmt geradezu traumhaft schön herauskam, und außerdem die längsten dunklen Wimpern, die Daisy jemals an einem Mann gesehen hatte. Unwillkürlich hob sie halb die Hand zu seinem Gesicht, dann riss sie sich zusammen. Was machte sie hier eigentlich?
»Also, um das Ganze zusammenzufassen«, fuhr sie stattdessen fort, »die Story ist das allgemeine Thema, oder die Stimmung der Fotos – eine Abendkleid-Story, eine blumige Story, ganz egal. Aber sie besteht außerdem noch aus jeder Menge anderem bildlichen Kram. Bezüge auf alles Mögliche, manchmal sogar verkappte Scherze, die nur wahnsinnig trendbewusste Insider mitkriegen.«
Etienne schien völlig gebannt zu sein. Daisy konnte sehen, dass er, auf seine relativ beherrschte Art und Weise, Anzeichen einer tief greifenden intellektuellen Erregung zeigte.
»Daisy, ich habe gerade etwas begriffen. Jetzt sehe ich, dass eine
Modestory ein Text ist«, sagte er ernst. »Ein Text, der selbstverständlich durch seine unglaublich reichhaltige und komplexe Intertextualität bestimmt ist.«
»Meinen Sie wirklich, Etienne?«, fragte Daisy beeindruckt. »Und was genau ist Inter... äh... textualität?«
»Nun, Sie haben mir erklärt, dass die Aussage einer Modestory oder eines Textes oft von anderen Bezügen oder Inter-Texten abhängig ist, die etwas mit der Modewelt zu tun haben können, manchmal aber auch von ganz woanders herkommen. Die Botschaft des Textes oder der Story wird durch die Inszenierung sichtbar, und außerdem hoffentlich durch das ›Lesen‹ der Kleidungsstücke. Sowohl der Stylist als auch der Leser sind daran beteiligt.«
Daisy nickte. »Das stimmt. Da gibt es all diese Schichten – manche sind offensichtlich, andere echt obskur. Jedes Outfit hat massenweise, äh, Inter-Texte. Und wenn man nichts von all dem mitbekommt, dann sieht’s eben einfach so aus, als ob jemand eine schöne Hose anhat.«
»Das ist wunderbar, Daisy. Entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte Etienne und stand auf, als sein Handy klingelte.
Während sie ihm nachsah, als er das Café verließ, um den Anruf entgegenzunehmen, gab Daisy einen ganz privaten kleinen Freudenquietscher von sich. Hier saß sie vor der Sorbonne und wurde vor einem echten Pariser Intellektuellen als wichtige Modeexpertin betrachtet! Wenn Etienne nur nicht so zurückhaltend wäre, dann hätte sie ihn liebend gern umarmt. Doch das wäre ihm wahrscheinlich peinlich. Selbst nach einer ganzen Reihe von Treffen begrüßte er sie immer noch mit einem förmlichen Händedruck.
Als sie sich später anzog, um mit Raoul essen zu gehen, dachte Daisy bei sich, dass die Dinge rechtzeitig zum Jahresende wirklich in Gang kamen. Der Blog lief gut, sie besserte ihre Kasse auf, indem sie bei Anouk in der Boutique aushalf, und außerdem hatte sie
sich einen tollen neuen Freund zugelegt, der sie
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