High Heels und Gummistiefel
Daisys Mutter ins Zimmer ihrer Tochter getreten war und diese nackt auf ihrer Daunendecke ausgestreckt vorgefunden hatte, während Raoul, ebenfalls nackt auf dem Bett – wenngleich glücklicherweise mit dem Rücken zur Tür -, damit beschäftigt war, sie zu zeichnen.
»Oh, huch, Entschuldigung!«, hatte Daisys Mutter gequiekt und die Tür hastig zugeschlagen.
Daisy, die ihre Mutter gut kannte, hatte es für das Beste gehalten, den Tag weiterlaufen zu lassen, als sei nichts geschehen. Unglücklicherweise hatte sie versäumt, das Raoul zu erläutern, der sich beim Weihnachtsessen bemüßigt sah zu sagen: »Ich hoffe, wir haben Sie vorhin nicht schockiert, Madame.«
Daisys Mutter starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und beteuerte: »Oh, nein, nein! Selbstverständlich nicht.«
»Wieso? Was ist denn passiert?«, wollte Daisys Vater leutselig wissen, während er die Brotsoße herumreichte. Daisys Vater hielt eine Menge von Raoul, weil er sich in Sachen Sport auskannte. Da er im Südwesten Frankreichs aufgewachsen war, hatte Raoul in seiner Jungend viel Rugby gespielt und war ein Anhänger des ballon ovale geblieben. Die beiden Männer hatten in großer Ausführlichkeit diverse Episoden im letzten Tournoi des Cinq Nations abgehandelt.
Daisys Mutter gab ein kleines Auflachen von sich. »Nichts, Darling. Gar nichts ist passiert.«
Raoul wandte sich an Daisys Vater und meinte mit wölfischem Lächeln: »Ja, es war wirklich nichts. Ihre Frau ist hereingekommen, als ich Daisy gerade gezeichnet habe.«
»Ah ja. Daisy hat uns erzählt, dass sie in Paris so etwas wie ein Künstlermodell geworden ist. Hört sich spaßig an.«
»Daisy hat einen tollen Körper. Es ist ein Vergnügen, sie zu zeichnen.«
»Ha-ha, nun ja, sie ist unsere Kleine. Natürlich finden wir sie reizend.«
»Raoul .«
»Was ›Raoul‹? Es ist doch wahr. Du schämst dich doch nicht etwa, oder?«
»Nein . Aber...«
»Wissen Sie, Madame, ich weiß noch, wie ich Daisy zum ersten Mal gesehen habe, da habe ich mir gedacht: Wow, das Mädchen da würde ich wirklich gern mal ganz nackt sehen, mit all dem langen Haar um sie rum.«
Nach einem kurzen Schweigen fragte Daisys Mutter mit ziemlich hoher, bebender Stimme: »Raoul, möchten Sie ein bisschen Salat? Ich habe ein echtes französisches Dressing dazu gemacht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es ganz richtig hinbekommen habe, aber ich hoffe, es schmeckt Ihnen.«
»Ja, vielen Dank, Madame. Ich finde«, meinte Raoul nachdenklich, während er sich Salatblätter auf den Teller häufte, »Engländerinnen sind im Allgemeinen sehr schön.«
»Tatsächlich? Wie nett von Ihnen.«
»Ja. Daisy ist sehr schön, natürlich. Sie ist wie eine Rose«, erläuterte er und öffnete ausdrucksvoll die Finger, um volles Erblühen anzudeuten. »Und auch Sie, Madame, sind eine sehr schöne, faszinierende Frau.«
»Ach, das ist aber lieb von Ihnen. Vielen Dank, Raoul.«
»Wir kennen uns nicht sehr gut, Sie und ich, aber ich bin mir jetzt schon sicher, dass es in Ihrem Inneren viel Sinnliches, Mysteriöses gibt, eine Menge wundervolle Geheimnisse.«
»Geheimnisse? Ich?«, kicherte Daisys Mutter und griff unbewusst prüfend an den obersten Knopf ihrer Bluse. »Oh nein, eigentlich nicht!«
»Wissen Sie, Madame, es ist merkwürdig, weil, als ich jung war, war ich sehr naiv. Zum Beispiel habe ich gedacht, dass in Frankreich alles am besten ist – das Essen, der Wein – und dass auch unsere Frauen die schönsten auf der ganzen Welt sind. Aber seither bin ich viel gereist und habe eine Menge unterschiedliche Menschen kennengelernt, und das hat mir die Augen geöffnet.«
»Gut so, Raoul«, lobte Daisys Mutter anerkennend.
»Jetzt ist mir zum Beispiel klar, wie interessant englische Frauen sind. Besonders«, fuhr Raoul fort und wandte sich abermals an Daisys Vater, »die knabenhaften Typen, die androgynen Mädchen. Sie wissen schon, mit sehr flacher Brust und kurzem Haar, wie ein Schuljunge...«
»Möchte jemand Käse? Raoul?«
»Es muss wunderbar sein«, sagte Daisys Mutter und lächelte strahlend, »die Welt so wie Sie zu sehen, durch die Augen eines Künstlers.«
»Oh, vielen Dank, Madame, aber ich bin eigentlich gar kein Künstler, wissen Sie? Ich habe keine klassische Ausbildung. Ich habe ganz einfach immer schon gern Frauen gezeichnet. Damit habe ich sehr früh angefangen, als kleiner Junge, und habe mich immer mehr dafür interessiert.«
»Wirklich? Ihnen ist dasselbe Motiv niemals langweilig geworden?«,
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