Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
würde Gott ihnen ihre Last schon erleichtern , hieß es dann.
Aber Isabelle sah das anders. Sie wusste, dass die Armen nach bestem Vermögen zu überleben versuchten. Aber sie besaßen weder Bildung, Titel noch sonst etwas, das ihnen erlaubt hätte, sich eine würdigere Existenz zu schaffen. Sie beteten täglich zu Gott, wurden aber nie dafür belohnt! War es da nicht Aufgabe der Wohlhabenden, ihnen christliche Nächstenliebe zu erweisen, um ihnen das Leben ein wenig leichter zu machen?
Aus diesem Grund ging sie ein Mal pro Woche zu den Nonnen, die sich um verlassene Kinder kümmerten, und half bei ihnen aus. Oft, wenn die Schwestern zu beschäftigt damit waren, Kerzen, Schuhe, Hostien und andere nützliche Gegenstände herzustellen, griff sie zur Nadel und übernahm die Fertigstellung der bestellten Uniformen oder Segel für Fischerboote. Der Verkaufserlös reichte gerade aus, um den Wiederaufbau des Hospitals zu finanzieren. Es war vor zwei Jahren bei einer Feuersbrunst, die im Westen der Stadt einen großen Teil der Häuser ergriffen hatte, zerstört worden.
Heute brauchte Schwester Catherine Hilfe in der Küche. Zwei der Nonnen waren unpässlich. Isabelle arbeitete gern in diesem Raum, der sie an glückliche Stunden aus ihrer Kindheit erinnerte. Die Hände voller Erdbeersaft, die Nase gesättigt mit den süßen Düften der Konfitüren und den Geist beschäftigt durch die Gespräche der Schwestern bemerkte sie gar nicht, wie die zwei Stunden vergingen. Als sie sich säuberte, kam ihr der Gedanke, dass sie dem Hospital mehr Zeit schenken sollte: Sie fand es nicht nur befriedigend, den Schwestern zu helfen, sondern sie unterhielt sich dabei auch ausgezeichnet.
Auf dem Weg zum Ausgang kam sie an der Schreibstube vorbei. Letzte Woche hatte sie dort einen Rosenkranz holen wollen und hatte eine Frau ertappt, die gerade die Kassette mit den Tageseinnahmen stehlen wollte. Marie-Louison Gadbois, die höchstens sechsunddreißig oder siebenunddreißig Jahre alt war, aber viel älter wirkte, hatte sie angefleht, sie nicht zu verraten. Die Mutter von sechs Kindern kam regelmäßig ins Hospital und bat um Hilfe. Ihr Mann, ein Voyageur, war seit fünf Jahren nicht nach Hause gekommen und hatte seinen jüngsten Sohn noch nie gesehen. Man munkelte, er sei am Leben und lebe irgendwo im Oberland mit einer Indianerin zusammen. Der Frau blieb nichts anderes übrig, als ihren Körper zu verkaufen und gelegentlich zu stehlen. Unter der Bedingung, dass die arme Frau die Schwestern, die sie durchfütterten, nie wieder bestehlen würde, war Isabelle bereit gewesen, über den Vorfall zu schweigen.
Ermattet verließ sie das imposante Steinbauwerk, das seit 1693 mehrmals erweitert worden war. Soeben war es nach den neuesten Vergrößerungsplänen, die Monsieur de Montgolfier, der Abt der Sulpizianer, 1758 gezeichnet hatte, umgebaut worden. Das Hospital stand auf einem zehn Morgen großen Grundstück auf der »Pointe à Callière« genannten Landzunge vor den Toren von Montréal. Hinter dem Gebäude wurden auf einem weitläufigen Areal Gemüse und Obst angebaut, von denen die Schwestern lebten. Die Müdigkeit, die Isabelle empfand, wenn der Nachmittag vorüber war, wurde mehr als ausgeglichen durch das gute Gefühl, eine Pflicht erfüllt zu haben, und sie kehrte an diesen Tagen stets lächelnd nach Hause zurück.
Die feuchte Hitze drang auf sie ein. Basile war pünktlich vorgefahren und wartete mit der frisch polierten Berline auf sie, die in der herrlichen Sonne der letzten Maitage des Jahres 1767 glänzte. Marie, die ihrer Herrin bei ihren Besorgungen zur Hand gehen sollte, erwartete sie strahlend. Die Luft war vom Duft des Flieders und der Apfelblüten erfüllt. Er erinnerte Isabelle daran, dass am nächsten Tag bei Sieur d’Ailleboust ein ländlicher Ball stattfinden sollte, zu dem mehrere kanadische Honoratioren und ihre Familien zusammenkommen würden. Sie war entzückt von der Aussicht auf dieses Fest und hatte sich eifrig darauf vorbereitet. Zu diesem Anlass hatte sie sich ein Kleid aus grünem Musselin anfertigen lassen, das mit Knöpfen in Form rosafarbener Blüten und hübscher gelber Schmetterlinge besetzt war. Nun musste sie nur noch den Strohhut abholen, den sie bei Madame Cadieux bestellt hatte. Auf ihren alten hatte sich Gabriel gesetzt, und danach war er nicht mehr auszubessern gewesen.
Die Kutsche fuhr an den verkohlten Überresten des letzten Brandes vorbei, die verlassen und Wind und Wetter ausgesetzt dalagen. Sie
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