Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
beobachtete und die widerstreitendsten Empfindungen in ihm erweckte.
Er liebte Tsorihia. Er liebte Isabelle. Er fühlte sich zwischen den beiden Frauen hin- und hergerissen. Warum wollte er die Frau verlassen, mit der er seit fast drei Jahren sein Leben teilte? Er hätte nur schwer eine Antwort auf die Frage geben können. Die Vernunft riet ihm, bei Tsorihia zu bleiben, aber sein Herz wählte Isabelle. Ihm kam der Gedanke, dass das unsinnig war: Wahrscheinlich hatte Isabelle sein Angebot schon vergessen und war dabei, sich ein neues Leben aufzubauen, in dem für ihn kein Platz war. Dann dachte er an Gabriel, und alle logischen Argumente verflogen. All diese Fragen raubten ihm die Kraft. Seit seiner Rückkehr aus Montréal hatte er nach und nach aufgehört, Tsorihia zu begehren. Wenn er sich jetzt mit der Huronin der Liebe hingab, dachte er an das kleine Bürgermädchen. So hatte er ständig den Eindruck, beide Frauen zu betrügen, und fühlte sich dabei immer schäbiger.
Tsorihia stellte den Korb weg, den sie flocht. Alexander, der auf sie zuging, blieb am Waldsaum stehen. Das Licht vergoldete seine Haut und ließ sein Haar glänzen. An seinen Waden verschwanden die Tätowierungen unter dem dunklen Flaum, den zu enthaaren er sich weigerte. Seine weiße Abstammung gewann die Oberhand über die Lebensweise der Indianer, die er angenommen hatte. Wann hatte das begonnen? Mit seiner Rückkehr aus der Stadt. Sicher, es war ganz natürlich, dass der Kontakt mit der Zivilisation für einige Zeit gewisse Gewohnheiten in ihm wiedererweckte und ihn vielleicht nostalgisch machte. Doch sie hatte den Eindruck, dass er sie seit dieser letzten Reise anders ansah.
Doch jetzt gerade glaubte sie in den blauen Augen ein Licht zu erkennen, das sie erregte und in ihr den Wunsch erweckte, ihren Mann zurückzuerobern. Sie wusste genau, wie er zu verführen war. Während sie ihn aus dem Augenwinkel beobachtete, tat sie, als habe sie ihn nicht bemerkt, und rekelte sich sinnlich. Er zog die Augen zusammen und hob das Kinn. Dann tat er zwei Schritte in ihre Richtung. Sie ging auf alle viere, als suche sie etwas im Gras, und präsentierte ihm so ihr Hinterteil, um ihn anzuregen.
»Der-mit-den-Augen-spricht« war üblicherweise unersättlich, doch seit einigen Tagen schien er lustlos zu sein. Zuerst hatte sie geglaubt, der Zauber ihrer Anziehungskraft habe sich verflüchtigt. Um ihren Verdacht zu überprüfen, hatte sie den Umstand, dass Alexander wegen eines Jagdausflugs mit Munro einige Tage nicht da war, genutzt, um zu Mathias zu gehen. Sie hatte noch nie mit einem anderen gelegen, und es brach ihr das Herz. Aber sie musste es wissen. Mathias hatte ihr leidenschaftlich gehuldigt. Dann war das also nicht der Grund. Der Schamane, den sie aufgesucht hatte, um klarer zu sehen, hatte ihr geraten, die Antwort in ihren Träumen zu suchen.
Sie hatte ihre monatliche Blutung 49 zum Vorwand genommen und sich in die Wälder zurückgezogen, wo sie drei Tage gefastet hatte. In ihrem geschwächten Zustand hatte sie eine Vision gehabt: Eine hellhäutige Frau kraulte den Geist des Großen Weißen Wolfs zärtlich zwischen den Ohren. Sie hatte nicht gleich begriffen. Aber nach und nach hatte sie gespürt, wie Zweifel in ihrem Herzen aufstiegen …
Endlich trat Alexander aus dem Schatten und bewegte sich einige Schritte auf die Huronin zu. Sie rührte sich nicht, aber ihr Blick war wachsam, und ihre Nasenflügel bebten wie bei einem Tier, das auf der Lauer liegt. Der Wind wehte einen Rauchschleier heran, der sich zwischen sie legte. Als er sich aufgelöst hatte, war Tsorihia verschwunden. Nur noch der unvollendete Korb stand da. Auf der Suche nach ihr schaute Alexander sich nach rechts und links um. Er musterte den Fluss, wo die Kinder sich jetzt unter der Aufsicht von drei Frauen damit unterhielten, Frösche zu fangen. Tsorihia schwamm gern; vielleicht war sie ins Wasser gesprungen. Doch ihr Kopf tauchte nirgendwo auf. Dann sah Alexander, dass am Felsen das Gras niedergetreten war und beschloss, dieser Spur zu folgen.
Ein Lachen forderte ihn auf, in den Wald einzudringen. Er wusste, dass pechschwarze Augen ihn beobachteten. Er wühlte sich durch das spitzenzarte Farnkraut. Über ihm zwitscherten die Vögel. Mit einem Mal krächzte eine Krähe, und er lächelte. Er wandte sich nach rechts, zu einer kleinen Anhöhe. Das Krächzen wiederholte sich. Endlich sah er sie: Sie saß im Schneidersitz auf einem Bett aus Kiefernnadeln, hoch aufgerichtet und von
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