Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
Vögel, die nicht fliegen können.«
»Und wo hast du deinen Strauß gesehen?«, erkundigte sich einer der Indianer, Jean Nanatish, schmunzelnd.
»Na, da!«
Gabriel wies mit dem Fernglas auf den Sandstrand einer Bucht.
»Ach, das! Das ist ein Reiher, mein Freund.«
»Ein ›eihe‹?«
Gereizt über die fehlerhafte Aussprache ihres Sohns schaltete sich Isabelle ein.
»Rrreiher.«
Gekränkt warf Gabriel ihr einen finsteren Blick zu.
»Rrreiher!«
Dann wurde es wieder still … ein paar Minuten lang.
»Wann sind wi’ da?«
»Geduld, mein Junge.«
»Ich habe Hunge’, Mama. Hast du nichts zu essen dabei?«
»Gabriel … Würdest du bitte ruhig sitzen und endlich still sein?«
Alexander ließ den Ruderschlag beschleunigen. Die Luft roch nach Regen, und hinter ihnen grollte es bereits. Ungeduldig murrend suchte Isabelle in ihrer Stofftasche und zog ein Stück Käse hervor, das sie ihrem Sohn reichte. Leider war es viel zu schnell aufgegessen. Ein paar Sekunden lang war nur das Plätschern zu hören, mit dem die Ruder ins Wasser tauchten. Dann begann der kleine Junge hin- und herzurutschen.
»Mama …«
»Ja, Gabriel. Was ist jetzt wieder?«
Kurze Pause.
»Ich muss mal.«
»Ach, Herrgott! Kannst du es nicht noch ein bisschen einhalten?«
»Ich ve’such’s.«
Aber fünf Minuten später zappelten die kleinen Beine schon wieder.
»Mama, ich mach gleich in die Hose.«
Alexander, der die Szene beobachtet, aber gezögert hatte, sich einzumischen, entschied: »Zieh die Hose aus.«
Gabriel riss die Augen auf.
»Aber dann sehen doch alle meinen kleinen Mann!«
»Ach, du lieber Gott!«, stöhnte Isabelle.
»Ja, und?«, gab Alexander mit begütigendem Lächeln zurück. »Alle anderen hier haben auch einen ›kleinen Mann‹.«
Zweifelnd musterte das Kind die Passagiere des Kanus.
»Mama und Ma’ie nicht.«
Gelächter und ein weiterer mütterlicher Tadel ließen sich vernehmen. Gabriel schlug die Augen nieder.
»Wohl wahr«, meinte Alexander und warf den betroffenen Damen einen schelmischen Blick zu. »Aber sie haben deinen kleinen Mann bestimmt schon tausendmal gesehen.«
Gabriel verzog das Gesicht und schaute an sich hinunter. Schließlich nickte er und knöpfte seine Hose auf. Alexander legte sein Ruder quer über das Kanu und zwinkerte Jean Nanatish zu, der einen Befehl auf Algonquin rief. Alle Männer hörten zu rudern auf. Ohne Vorwarnung griff Alexander unter Gabriels Achseln und hob ihn hoch. Verblüfft begann das Kind zu schreien und zu zappeln. Isabelle wollte aufstehen, um einzugreifen, doch eine Hand hielt sie am Boden des Kanus fest.
»Alex! Was machst du da?«
»Wenn der König sich erleichtern muss, soll man nicht warten, bis ihm die Blase platzt.«
Mit diesen Worten tauchte er seinen Sohn bis zur Taille ins Wasser. Überrascht hatte Gabriel zu schreien und zu gestikulieren aufgehört. Aber seine aufgerissenen Augen brachten seine Ungläubigkeit gegenüber diesem Ansinnen zum Ausdruck.
»Ich kann nicht«, quengelte er nach ein paar Sekunden. »Schließ die Augen und stell dir das Plätschern eines Springbrunnens oder Bächleins vor«, empfahl Alexander, der die Wasseroberfläche genau im Auge behielt.
Gabriel gehorchte. Kurz darauf lächelte er erlöst: Die Mission war erfolgreich abgeschlossen. Zufrieden setzte Alexander ihn wieder auf den Boden des Kanus und reichte ihm eine Decke. Dann griff er erneut zu seinem Paddel.
»Können wir weiterfahren, Monsieur?«
»Ja …«
»Wunderbar! Auf geht’s!«
Alle Paddel tauchten gleichzeitig ins Wasser, und das Boot gewann rasch an Fahrt. Als vor ihnen der Kirchturm der Mission auftauchte, die die Sulpizianer 1721 am Ufer des Deux-Montagnes-Sees erbaut hatten, seufzte Isabelle erleichtert. Einige Minuten später kam das steinerne Herrenhaus, das Marie-Louise Denys de la Ronde, die Gattin des Sieur Pierre d’Ailleboust d’Argenteuil, hatte errichten lassen, in Sicht. Stolz erhob es sich am Wasser, nicht weit von einer Anlegestelle. Endlich ging die Fahrt zu Ende. Aber… warum fuhren die beiden Kanus weiter, statt auf das Ufer zuzuhalten?
»Alex, ich dachte … Ist das nicht das Herrenhaus von Argenteuil?«
»Allerdings.«
»Und? Du hattest mir doch gesagt, dass …«
»Dass wir in die Domäne Argenteuil fahren. Ich habe nie behauptet, die Seigneurs wären unsere Nachbarn.«
Isabelle stieß einen enttäuschten Ausruf aus. Da grollte es am Himmel. Besorgt sah sie zu Alexander auf. Ein erster Regentropfen fiel, dann ein
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