Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
kannst? Du kannst ja keinen Moment stillhalten, Herrje!«
In diesem Moment vernahm sie Maries gellenden Schrei. Zuerst glaubte sie, Francis renne der jungen Frau nach, um ihr wie so oft Angst einzujagen. Aber dann erscholl ein zweiter, durchdringender Schrei, bei dem ihr die Haare zu Berge standen. Das war ganz gewiss kein Spiel.
»Was hat denn Marie, Mama?«, fragte Gabriel besorgt.
Hastig rückte Isabelle die Windel zurecht, wickelte Élisabeth in ihre Decke und legte sie in die Wiege.
»Gaby, du bleibst hier bei deiner Schwester und passt auf sie auf«, befahl sie. »Lass sie keinen Moment aus den Augen, sonst ziehe ich dir die Ohren lang, wenn ich zurückkomme.«
Sie ließ ihrem Sohn keine Zeit für eine Antwort und stürzte schon aus der Hütte. Doch dann kam sie noch einmal herein, nahm das Gewehr vom Haken und schloss die Tür hinter sich. Gabriel blieb verängstigt zurück.
Der aufkommende Wind raschelte in den Blättern, brachte die Äste zum Knarren und dämpfte ihre Schritte, aber auch die eventueller Verfolger. Alexander fuhr beim leisesten Knacken oder dem Ruf eines Tieres zusammen. Er kannte die Indianer gut genug, um zu wissen, dass sie oft Tierlaute nachahmten, um sich unauffällig zu verständigen. Als er den Ruf eines Ziegenmelkers hörte, blieb er regungslos stehen und wartete auf eine Antwort. Nichts. Erleichtert bedeutete er John, dass sie weitergehen konnten.
Es wurde Nacht. Büsche, Löcher und Abhänge lagen in der Dunkelheit verborgen, die jedem, der den beiden Männern vielleicht auflauerte, zahlreiche Verstecke boten. Zugleich wurde es fast völlig still. Bis auf ein paar nächtliche Vögel und Insekten wagten die Tiere sich nicht zu Wort zu melden. Über ihnen, hinter dem Astgewirr, wurde der Himmel immer finsterer. Heute Nacht schien kein Mond.
Einen Moment lang hörte Alexander das Klicken ihrer Waffen, das Schleifen ihrer Ledertaschen, das Rascheln ihrer Schritte und das Zischen ihres Atems. Sie hatten Red River Hill jetzt fast erreicht. Alles war still. War es zu ruhig oder nicht ruhig genug? Er wusste es nicht mehr. Mit dem Fuß stieß er gegen eine Baumwurzel und machte fluchend einen Satz. Seine Ängste und düsteren Gedanken hatten ihn abgelenkt. Dabei kannte er diesen Ort doch wie seine Westentasche.
»Geht es?«
»Ja …«
Er musste seine Furcht bezähmen und auf der Hut bleiben. Um sich von seiner Angst abzulenken, begann er ein Gespräch.
»Die Männer, die dich begleitet haben… arbeiten sie für dich?«
»Ja. Ich arbeite seit drei Jahren auf eigene Rechnung.«
»Hmmm … Ich hatte schon gehört, du hättest deine geschäftlichen Beziehungen zu deinem Schwager abgebrochen.«
»Philippe Durand? Wenn man so will. Sagen wir, dass ich manche seiner Methoden nicht billigte. Da habe ich mich lieber selbstständig gemacht. Einige seiner Männer haben sich entschieden, mir zu folgen. Cabanac und le Chrétien gehören dazu. Cabanac würde ich mein Leben anvertrauen. Er ist mir treuer ergeben als ein Hund.«
»Cabanac? Ist das nicht derjenige, der mir den Finger abgeschnitten hat?«
John, der hinter seinem Bruder ging, seufzte.
»Bist du mir deswegen böse, Alas?«
»Du hast getan, was du tun musstest. Hättest du mich verstümmeln wollen, hättest du mir ja wohl die ganze Hand abgehackt! Marie-Anne hat dafür gesorgt, dass alles vollständig verheilt war, ehe sie mich nach Québec zurückkehren ließ.«
»Bist du eigentlich auch desertiert?«
»Nein … Das war eine merkwürdige Geschichte, die ich dir aber lieber ein andermal erzähle.«
»Ja … Wir werden ein ganzes Fass Whisky brauchen, um einander unser Leben zu erzählen.«
»Ein Fass wird da wohl nicht ausreichen, wenn du meine Meinung hören willst.«
Alexander wich einem Baumstamm aus, der quer über den Weg gestürzt war.
»Obacht!«
»Danke.«
Sie gingen noch ein paar Schritte, ohne etwas zu sehen.
»Alas …«
»Ja?«
»Bist du glücklich?«
»Glücklich?«
Alexander fühlte sich in diesem Moment nicht besonders froh.
»Ich meine … Du wirst diese Frau heiraten, und in ihren Kindern fließt dein Blut. An der Vergangenheit kann man ja wohl nichts ändern. Aber wie wird die Zukunft aussehen?«
»Nun ja … Doch, ich glaube, ich bin glücklich.«
»Gut. Das hätte sich nämlich Mutter gewünscht. Sie war überzeugt davon, dass du noch lebst, wusstest du das?«
»Ja, man hat mir davon erzählt.«
»Hmmm … Wenn du glücklich bist, dann bin ich es ebenfalls.«
Alexander
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