Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
fragte sich, was seine Worte wohl bedeuten sollten. Als er verschwunden war, wandte sie sich um und wollte in ihre Hütte zurückkehren. Das Kläffen der Hunde, die durch die angespannte Stimmung überreizt waren, breitete sich in den Wäldern aus. Munro hatte die Meute losgelassen.
»Marie!«
Die junge Frau beugte sich über Francis und untersuchte die Wunde an seinem Arm. Isabelle ließ die beiden lieber allein und ging auf die Hütte zu. Doch in dem Moment, als sie die Tür erreichte, versetzte ihr jemand einen so heftigen Stoß, dass sie zu Boden schlug. Die Waffe rutschte ihr aus den Händen, und sie riss sich den Zeigefinger am Abzugsbügel auf. Panisch robbte sie über die Erde, um das Gewehr zu erreichen. Doch ein Fuß setzte sich auf ihr Handgelenk und zerquetschte es fast. Sie stöhnte vor Schmerz.
»Du hast es nicht geschafft, den Schnabel zu halten, stimmt’s?«
»Ich schwöre dir, ich habe nichts gesagt, Étienne! Nicht ich habe Alarm geschlagen! Marie … kam schreiend angelaufen. Einer deiner Wilden hat sie angegriffen.«
Étienne fluchte. Dann fiel ihm ein Lichtstrahl ins Gesicht.
»Mama?«
Isabelle geriet in Panik. Vergeblich versuchte sie, ihr Handgelenk zu befreien.
»Geh wieder hinein, Gaby! Ich hatte dir doch gesagt, du sollst bei deiner Schwester bleiben!«
»Aber sie kann doch nicht laufen… Was machst du da, Mama? Onkel Étienne?«
»Hör auf deine Mutter, Gabriel. Geh nach drinnen!«
Aufschluchzend gehorchte der Knabe. Das merkwürdige Verhalten seiner Mutter und der Ton seines Onkels jagten ihm Angst ein. Wieder wurde es stockfinster. Isabelle ging mit den Fingernägeln auf den Fußknöchel ihres Bruders los. Schließlich gab Étienne sie stöhnend frei. Verzweifelt packte sie mit beiden Händen den Gewehrkolben und riss die Waffe mit aller Kraft nach oben. Dann wälzte sie sich auf den Rücken. Der Schuss ging los, und der Rückstoß traf ihre Schulter. Fluchend tastete Étienne seinen Kiefer ab, über den Blut floss.
»Ich hatte dich gewarnt, Isa!«
Aus der Hütte drang ein fürchterlicher Radau. Élisabeth schrie und Gabriel weinte laut. Voller Angst stand Isabelle auf, um ihren Kindern zu Hilfe zu eilen. Aber sie verhedderte sich in ihren Röcken. Das Gewehr glitt ihr aus den Händen. Sie hob es auf und tastete nach dem Abzug. Doch plötzlich packte Étienne sie um die Taille. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst, und wieder ließ sie das Gewehr fallen, das auf ihrem Fuß landete.
»Lass mich! Die Kinder! Lass mich los, Étienne!«
»Ich will das Gold! Und du wirst mir helfen, es zu finden! Ich weiß, dass es hier irgendwo ist. Wenn du mitmachst, wird niemand deinen Gören etwas tun, verstanden?«
Verzweifelt gab sie ihre sinnlose Gegenwehr auf und begann zu schluchzen. Étienne zog sie zum Waldsaum. Sie zitterte und stolperte ein ums andere Mal, aber er hielt sie fest. Durch einen Tränenschleier hindurch sah sie zu den schwach erhellten Fenstern der Hütte, die in der Dunkelheit immer kleiner wurden.
Schüsse waren zu hören. Nervös zerrte Étienne sie immer gröber weiter. Mit einem Mal tauchte ein Indianer aus dem Dunkel des Waldes auf. Aus einer Schnittwunde auf der Stirn floss Blut über seine Wange. Er schrie etwas, das Isabelle nicht verstand, und Étienne antwortete ihm in derselben Lautstärke und der gleichen fremdartigen Sprache.
Isabelle ließ die Hütte nicht aus den Augen. Immer noch hörte sie ihre Tochter schreien, wenn auch immer leiser. Merkwürdigerweise schien es hinter einem der Fenster zunehmend heller zu werden. Sie hörte zu weinen auf. Entsetzt und wie erstarrt vergaß sie ihre eigenen Probleme und dachte nur noch an ihre Kinder.
»Neiiin!«
Als sie begriff, was da vor sich ging, wurde sie von Grauen überwältigt. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen.
»Neiiin! Gabriel! Gabriel!«
Fieberhaft versuchte sie sich aus Étiennes Griff zu befreien. Als er die ersten Flammen hinter dem kleinen Fenster auflodern sah, ließ er sie augenblicklich los.
Die Schüsse und Schreie erfüllten Alexander mit Bestürzung. Der Schotte begann zu rennen; John war ihm dicht auf den Fersen. Aber ihm war, als komme er gar nicht vorwärts. Er hatte den Eindruck, der Boden sacke unter seinen Füßen weg, und die Äste schienen sich an ihn zu klammern und ihn aufzuhalten. Die herzzerreißenden Schreie brachten ihn schier um den Verstand. Wieder sah er Tsorihia vor sich, wie sie mit ausgebreiteten Armen auf dem Boden lag, das Gesicht noch zu einer Maske des
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