Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
Aufmerksamkeit auf sich. Er starrte darauf und versuchte zu überlegen: Er musste so tun, als ergebe er sich. Étienne packte ihn am Hemdkragen und zwang ihn zum Aufstehen.
»Was hast du mit dem Gold gemacht?«
Seine schwarzen Augen glänzten. Der Mann war offenbar nicht mehr Herr seiner selbst und nicht ganz bei Verstand.
»Ich habe es … weggegeben.«
»Weggegeben?! Du hast die Truhe verschenkt? An wen?«
»An die Orden.«
»Orden?«
»Religiöse Orden.«
Étienne versetzte dem Hund einen Tritt und explodierte vor Zorn.
»Du Teufelsbastard! Du bist wirklich ein Dreck von einem Engländer! Die Orden sind doch Stiefellecker der britischen Regierung und fressen ihr aus der Hand!«
Der Kanadier war aschfahl geworden, atmete schwer und schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte ebenfalls bemerkt, dass seine Waffe im Gras lag, und wollte sie aufheben. Aber Alexander bückte sich zuerst danach. Erneut lieferten sie sich einen Faustkampf. Es dauerte nicht lange, bis Étienne die Oberhand gewann. Endlich bekam er die Waffe zu fassen und setzte den kalten Lauf unter das Auge seines Gegners. Sofort erstarrte Alexander. Étiennes pfeifender Atem verriet, dass er aufgewühlt und unentschlossen war. Alexander wartete nur auf die Detonation, die seinen Schädel sprengen würde. Bedrückt dachte er an Isabelle und die Kinder.
»Steh auf!«
Plötzlich hatte sein Schwager ihn freigegeben und stand auf. Alexander schluckte und gehorchte. Étienne setzte ihm den Lauf der Waffe ins Kreuz und stieß ihn auf das Kornfeld zu.
»Bedaure, dass ich meine Schwester noch einmal zur Witwe machen muss … Aber wenn ich die Schatulle nicht bekomme, will ich wenigstens meine Rache. Für Marcelline.«
»Er hat Marcelline nicht getötet!«, schrie jemand hinter ihnen.
Beide Männer fuhren herum und fanden sich Isabelle gegenüber, die vor Wut außer sich war. Sie kam auf sie zu und hielt das Jagdgewehr in der Hand, das sie stets griffbereit hatte, falls ein tollwütiges Tier ums Haus strich.
»Ist das nicht ein allerliebstes Bild? Mein Schwesterlein spielt Soldat!«
»Ich werde auch schießen wie ein Soldat, wenn du mich dazu zwingst, Étienne!«
Selbstbewusst legte sie das Gewehr an. Dann, als ihr Blick auf Alexanders blutüberströmtes Gesicht fiel, entfuhr ihr ein Stöhnen. Aus seinen schwarzen Augen starrte ihr Bruder sie herausfordernd an. Ein unheilverkündendes Lächeln umspielte seine Lippen. Ein langes Schweigen trat ein, in dem nur das Zwitschern der Vögel zu hören war. Isabelle spürte, wie ihr Finger auf dem Abzug zitterte. Sie holte tief Luft und sah erneut zu Alexander. Beruhigend tätschelte ihr Mann den Hund, der zu seinen Füßen saß. In seinem Blick stand die stumme Bitte, sie möge gehen. Aber nein, sie würde ihn nicht allein lassen, und das teilte sie ihm auch deutlich mit, indem sie entschlossen die Schultern straffte. Dann wandte sie sich wieder ihrem Bruder zu, der sich nicht gerührt hatte.
»Geh weg, Étienne!«
»Erst, wenn ich bekommen habe, was ich will.«
»Rache? Willst du das? Glaubst du etwa, du kannst alles in Ordnung bringen und zurückholen, was du verloren hast, indem du Alexander tötest? Du träumst ja, Étienne! Dein ganzes Leben hat nur aus Intrigen und Gier bestanden, ganz gleich, ob im Namen von Neu-Frankreich, von Marcelline … oder aus Hass auf meine Mutter. Immer hast du nur diesen sinnlosen Rachedurst in dir getragen. Also erzähl mir nicht, dass es dir das Herz erleichtern wird, wenn du jemanden umbringst, um Marcelline zu rächen. Du kannst es ganz einfach nicht ertragen, wenn andere Menschen glücklich sind, weil du selbst das nicht fertigbringst. Ich weiß nicht warum, aber so bist du schon immer gewesen. Und am allerliebsten hättest du mein Leben zerstört.«
»Ha, ha, ha! Was erzählst du da, Isa? Du fantasierst ja!«
»Tatsächlich?«
Trotzig sah sie ihn an und presste vor Verachtung und Furcht die Lippen zusammen. Der Blick dieser schwarzen Augen, die sie musterten, ließ ihr kalte Schauer über den Rücken laufen. Nervös krampfte sich ihre Hand zusammen, sodass die Waffe, die sie auf ihn gerichtet hielt, ruckte. Ihr Bruder hatte so gar nichts von Charles-Hubert, weder äußerlich noch innerlich. Das erinnerte sie mit einem Mal daran, dass Charles-Hubert nicht ihr richtiger Vater gewesen war. Der Gedanke wühlte sie auf. Tröstlich daran war allein, dass der Mann, dem sie gegenüberstand, nicht ihr leiblicher Bruder war.
»Vielleicht hast du teilweise recht…
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