Highland-Saga 04 - Dolch und Lilie
Menschen gesättigt war, hatte sie stets das Gefühl zu ersticken. Außerdem wusste sie, dass man sich nach ihrem Ausbruch jetzt die Mäuler über sie zerriss.
Die Abendluft war feucht. In der Mitte des Gartens, wo sich die Wege so kreuzten, dass sie wie in verstecktem Spott den britischen »Union Jack« nachbildeten, schimmerte eine Wasserfläche. Während sie langsam darauf zuging, dachte Isabelle über das nach, was Pierre ihr anvertraut hatte. Also verleugnete er seine Wurzeln nicht, ganz im Gegenteil. Plötzlich war sie sehr stolz auf ihn. Um seine Ziele zu erreichen, spielte ihr Mann den Engländern geschickt etwas vor. Diesen Charakterzug kannte sie gar nicht an ihm. Stille Wasser sind tief , hatte Caroline de Rouville gesagt. Isabelle verzog das Gesicht: Diese hübsche Dame schien sehr viel mehr über Pierre zu wissen als sie, seine Frau. Sie beugte sich über das Wasserbecken und bewunderte ihr verschwommenes, von einem tiefblauen Himmel umrahmtes Spiegelbild. Zwischen zwei Seerosen lächelte ihr die Mondsichel zu.
»Würdet Ihr mir ein paar Minuten Eurer angenehmen Gesellschaft gewähren, Madame?«
Isabelle zuckte zusammen, fuhr herum und fand sich Jacques Guillot gegenüber, der sie anlächelte. Er bemerkte ihre erschrockene Miene.
»Oder störe ich Euch?«
»Nein, Monsieur Guillot. Ich hatte nur… angesehen, wie sich der Mond im Wasser spiegelt.«
»Ah, der Mond, an den man seine Träume hängt und unter dem man vor Liebe seufzt! Besser als jeder andere kennt er die dunkle Seite des Menschen. Er ist Zeuge so vieler dunkler Komplotte, die im gelben Kerzenlicht ausgeheckt werden, so vieler Tränenströme und so vieler fieberhafter Umarmungen … Langweile ich Euch etwa?«
»Ganz und gar nicht, Monsieur Guillot. Fahrt nur fort. Ich finde Eure Worte bezaubernd!«
»Die Dame Mond, die Muse in ihrer silbernen Rüstung, die über die nächtliche Torheit der Menschen herrscht. Erhabene Königin in ihrem glitzernden Reich. Sie ruft die schlimmste Furcht oder die süßesten Gedanken hervor, erhellt mit ihrem Licht die Vollkommenheit dieser Welt oder wirft ihren Schatten über ihre übelsten Schurkereien. Wusstet Ihr, Madame, dass Euch in diesem Moment Mondstaub umschwebt?«
»Ihr sprecht so schön, Monsieur Guillot!«, rief Isabelle lachend aus, um ihre Verwirrung zu verbergen. »Dann wird also das Kleid, das ich trage, von jetzt an mein ›Mondstaub-Kleid‹ sein! Charmant! Wirklich, heute Abend ist der Himmel wunderschön und das Wetter für Oktober besonders mild.«
»Aber es wird kühl. Ihr solltet wieder hineingehen.«
»Nein, ich ziehe es vor, die letzten schönen Tage so weit wie möglich auszunutzen. Es wird so schnell Winter.«
Er zuckte zusammen. Lieber hätte er sie ins Haus geführt, weil er fürchtete, Pierre zu begegnen … Nun gut, der Garten war weitläufig, und sie würden eben die lauschigen Winkel, die hier und da eingerichtet waren, meiden.
»Wenn das so ist, lasst uns spazieren gehen … und hoffen, dass im Garten nicht der böse Wolf lauert!«
Er bot ihr seinen Arm, und sie nahm bereitwillig und lachend an. Schweigend gingen sie für einen Moment zwischen den großen Lavendel- und Schnittlauchbüscheln und sorgfältig gestutzten Buchsbaumreihen dahin und lauschten dem Knirschen der Kiesel unter ihren Füßen und dem fröhlichen, gedämpften Stimmengewirr des Balls irgendwo hinter ihnen. Der junge Mann bückte sich, um ein Pfefferminzblatt abzupflücken, dessen leichter Duft zu ihnen aufstieg.
»Schreibt Ihr eigentlich, Monsieur Guillot?«
»Schreiben?«
»Ich meine Verse, Sonette?«
»Oh nein, Gott bewahre! Niemals würde ich wagen, die Worte, die mir oft eine flüchtige Inspiration eingibt, in einem Heft niederzulegen. Dann und wann lege ich die Seele eines Poeten an den Tag, doch leider vermag ich die Feder nicht zu führen wie ein solcher, fürchte ich …«
»Wie schade! Und ich dachte immer, dass die Seele eines Dichters sich durch seine Feder verströmt …«
Jacques Guillot verhielt den Schritt, lächelte Isabelle zu und betrachtete sie amüsiert.
»Nur, wenn eine Muse diese Seele von den Konventionen einer bigotten, heuchlerischen Gesellschaft befreit, die ihm öffentliche poetische Ergüsse verbieten.«
»Eine Muse?«
Isabelle erstarrte.
»Natürlich! Jeder Dichter braucht eine Muse, wusstet Ihr das nicht? Sie ist es, die seiner Tinte die Farbe verleiht und seinen Worten ihren Duft.«
»Aha … So habt Ihr Eure Muse noch nicht gefunden, Monsieur
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