Hilfe, die Googles kommen!
und zu Otto wehrt sich mehr oder weniger erfolgreich gegen die Vampirjäger aus dem Internet. Allerdings sind die Zeiten definitiv vorbei, da die achtköpfige Familie im Sonntagsstaat am Briefkasten stand und voller Vorfreude auf den Fahrradbriefträger wartete, der dem Familienoberhaupt lächelnd den bibeldicken Otto-Katalog überreichte. Dort, wo diese Sippe sich einst versammelte, klebt jetzt ein Aufkleber: »Keine Werbung – sonst gibt’s aufs Maul!«
Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, in denen Mutter und Schwester sich um den dicken Kommerzfolianten stritten und ihn über Wochen in Beschlag nahmen, bevor ich ihn aus dem Altpapier fischen und die Wunder der Dessousangebote studieren konnte. Für Ersteres hat man heute Onlineshopping, für Letzteres Youporn. 49
Was es bei Otto nicht gab, gab es nicht. Heute gibt es im Netz nichts, was es nicht gibt. Bis vor ein paar Jahren bestellte man im Internet klassischen Versandhandel-Kram wie Klamotten, Bücher oder Bild- und Tonträger. Der allgemeine Trend, die Aufgaben des täglichen Lebens immer mehr ins Internet zu verlegen, scheint nun aber auch den samstäglichen Großeinkauf zu verdrängen. Von Müsli über Fotos bis hin zu Hygieneartikeln und Frischfleisch lässt sich im Netz alles bestellen – oftmals sogar mit einem Quentchen Innovation extra: Socken, Obst und Wurstwaren werden im Abo feilgeboten, Zerealien 50 lassen sich im BTO (Built-to-Order-Verfahren) 51 individuell zusammenstellen, und jeder, der eine Schraube locker oder nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, kann sich via Amazon Ersatz liefern lassen. Das ist natürlich bequem und wirkt auf den ersten Blick vernünftig und effizient.
Die Kehrseite der Medaille ist, dass man sich in echten Super- oder Baumärkten mangels Suchmaske einfach nicht mehr zurechtfindet. Wer einmal die Frechheit besessen hat, einen Mitarbeiter der Abteilung für Farben und Lacke nach Tapezierbedarf zu fragen, wünscht sich spontan die rechtschreibsensitive Produktsuche seines Online-Händlers zurück. Im Supermarkt meines Misstrauens musste ich mich letzthin sogar ausrufen lassen, weil ich auf der Suche nach Geflügelfonds mehrere Stunden orientierungslos zwischen Gewürzabteilung und Kühlbereich umhergeirrt bin. Meine Frau konnte mich dann ziemlich aufgelöst, glücklicherweise aber unversehrt an der Wursttheke abholen, wo sich die hilfsbereiten Fleischfachverkäuferinnen um mich gekümmert und mit kostenlosen Lyoner-Happen am Leben gehalten haben. Da wurde mir bewusst, wie sehr mir meine exzessiven Internetbestellungen die Fähigkeit zum selbständigen Einkauf geraubt hatten. Noch heute zittere ich gelegentlich, wenn ich meinen Warenkorb nicht mit einem Klick aufrufen, sondern stattdessen mit einem Euro losketten muss. Durch ein intensives Übungsprogramm, zuerst zu Hause mit dem Kaufladen meines Sohnes, dann in kleineren Super- und Drogeriemärkten, gelingt es mir langsam wieder, ohne fremde Hilfe zu shoppen. Mittlerweile kann ich den Einkaufswagen auch wieder als analoges Pendant zum Webbrowser verstehen und entsprechend nutzen. 52
Meine Frau kam und kommt mit der Einkaufssituation im Alltag besser zurecht, spürt aber auch die Auswirkungen übermäßigen Onlineshoppings: Als umtriebige eBay-Nutzerin versucht sie häufig, andere Einkäufer an der realen Supermarktkasse zu überbieten. Manchmal beobachtet sie Waren stundenlang, um dann erst kurz vor Ladenschluss zuzuschlagen. Das hat schon zu etlichen Missverständnissen mit Kaufhausdetektiven geführt, die glückli cherweise ohne schlechte Bewertung durch den Verkäufer bei gelegt werden konnten.
Ich weiß zwar nicht, ob man bei solchen Phänomenen schon von Volkskrankheiten sprechen kann, aber immer mehr Menschen scheinen davon betroffen zu sein, zwanghaft alles und jedes im Netz bestellen zu müssen. Als Grund wird neben der offensichtlichen Bequemlichkeit auch häufig Zeitersparnis genannt. Die Frage ist, ob es sich um eine tatsächliche oder gefühlte Zeitersparnis handelt.
Der Vorgang sieht für gewöhnlich doch so aus: Nachdem das Paket in Abwesenheit geliefert wurde, muss man
a) beim Nachbarn zu Kreuze kriechen,
b) die nächste Packstation aufsuchen oder
c) einen Nachforschungsantrag bei der Post stellen.
Hält man das Paket dann tatsächlich in den Händen, wird das Wohnzimmer zur Umkleidekabine, in der man eine der drei bestellten Größen (eine wie immer, eine kleiner, eine größer) anprobiert. Dann merkt man: »Shit, nur die Größere passt.
Weitere Kostenlose Bücher