Hilfe, die Googles kommen!
aus Buchrücken in der Schrankwand hat nach wie vor eine gewisse Anziehungskraft, eine Ästhetik des Wirrwarrs. Mein gesamtes Leben lang bin ich in Häusern und Wohnungen immer wieder Büchersammlungen in allen Größen, Farben und Formen begegnet. Die Reaktion darauf ist immer die gleiche. Man lässt den Blick über das Chaos aus Schriftarten und Buchformaten schweifen, legt den Kopf schief, um die Buchtitel lesen zu können, bleibt schließlich irgendwo hängen und spürt den Drang, das Buch aus dem Regal zu nehmen.
Durch den Siegeszug elektronischer Bücher werden diese jahrhundertealten gesellschaftlichen Gepflogenheiten nach und nach unmöglich oder zumindest unhöflich. Es war einst gute Sitte, einen interessierten Blick auf die Büchersammlung zu werfen, während der Gastgeber Kekse und Kaffee aus der Küche holte. Macht man das heutzutage, muss man sich dafür rechtfertigen, wieso man unerlaubt auf fremden iPads oder Kindles rumfingert. Versetzen Sie sich mal in die Lage: Sie kommen mit Snacks ins Wohnzimmer zurück und sehen, wie Ihr Gast interessiert auf Ihrem Laptop herumklickt. Wenig schuldbewusst sagt er: »Wollte nur mal eure Plattensammlung durchschauen. Nicht schlecht«, und fügt lächelnd hinzu: »Es kam übrigens gerade eine Mail von Eurem Steuerberater. Wenn ihr die gelesen habt, hört ihr ab sofort nur noch The Cure.«
Flippte man früher, die großformatigen Cover bewundernd, mit dem Finger durch die kiloschwere Vinylkollektion, war das Peinlichste, was man als Gast finden konnte, ein James-Last- Album (»Let’s dance Nr. 14«) oder die Weihnachts-LP von Roger Whittaker. Heute eröffnen sich nebenbei ungewollt Einblicke in das Privatleben, die weit über den individuellen musikalischen Geschmack hinausgehen. Also lässt man das zumeist bleiben.
Das führt dazu, dass über Musik fast nicht mehr gesprochen wird. Vorbei sind die Zeiten, in denen man die Vieldeutigkeit auf dem Cover der Nirvana-CD »Nevermind« zum Anlass genommen hat, um die Musik kulturell und politisch einzuordnen und angetrunken, aber redselig über den Status quo der Welt zu diskutieren. Viel schlimmer noch: Man hört die Musik heute schlicht nicht mehr, die man sich im MP3-Format kauft. Ich beobachte das an mir: Ich lese eine positive Rezension, höre eine interessante Single oder sehe ein Musikvideo auf YouTube und kaufe daraufhin das Album einer Band. Anschließend lege ich die Titel in meiner Datenbank ab und vergesse völlig, dass ich sie besitze. Das fällt mir erst dann wieder auf, wenn ich versehentlich die gleiche CD ein weiteres Mal gekauft habe, worauf mich mein Computer beim Import mit dem leicht zynischen Hinweis »Wollen Sie wirklich Duplikate importieren?« hinweist.
Und es wird nicht besser: Ich kann Ihnen schon jetzt nicht mehr alle Titel und Alben nennen, die ich in den letzten zwei Wochen beim Online-Händler erworben habe, aber ist Selbsterkenntnis nicht der erste Schritt zur Besserung? Ja, ich bin ein Junkie. Ja, ich sollte eine Selbsthilfegruppe gründen: die Anonymen MP3-Sammler.
»Hallo, ich bin Tobias. Ich besitze 24.000 Songs und habe bisher erst 4000 davon gehört. Gott, gib mir die Kraft, die Titel zu hören, die ich besitze, nur die zu kaufen, die ich auch mag, und die Weisheit, zu wissen, welche ich schon habe.«
Es ist so unerträglich leicht, sich binnen Minuten mit dem neuesten Stoff einzudecken. Ehe man es sich versieht, hat man Tausende von Titeln auf Knopfdruck verfügbar und hört letztlich doch nur immer die gleichen Songs. Mit der CD oder Schallplatte war es wie mit dem Buch: Sie forderte schon durch ihre bloße Existenz im Wohnzimmerregal Aufmerksamkeit ein. Die Nullen und Einsen auf der Festplatte hingegen sind extrem geduldig, und es ist ihnen im Grunde völlig gleichgültig, ob der Lesekopf der Festplatte über sie hinwegrast oder nicht.
Egal, ob Ihre digitale Droge Fotos, Bücher oder Musik ist, Sie verkaufen Ihre Seele an den Mephisto des Netzes, der Ihnen zwar unendliche Speicherkapazität, aber nur eine überschaubare Fähigkeit zur Verarbeitung gibt. Und wo wir schon wieder bei Goethe sind – lassen wir den guten, alten Heinrich Faust es doch noch mal neu formulieren: »Habe nun, ach, MP3s, E-Books und Fotografien durchaus gesammelt, mit heißem Bemüh’n. Da steh ich nun, ich armer Wicht, und seh die Welt vor lauter Daten nicht.«
Warum aber mache ich, ach was, machen wir alle diesen Onlineshopping-Wahnsinn mit? Ganz einfach: Das Gewerbe hat sich im Netz neu erfunden
Weitere Kostenlose Bücher