Hilflos in deinen Armen
Ägypten die Hilfe verweigert hatte. Vielleicht auch Noah nach der Sintflut.
„… Gypsy-Blut in den Adern?“, sagte er, offenbar nicht sehr erfreut.
Anscheinend hatte er sich solche Vergleiche schon öfter anhören müssen. „Ich wollte Euch nicht zu nahe treten. Ich habe halt nur selten einen Mann gesehen, der so gut tanzen kann.“
„In dem Falle danke ich für das Kompliment und bitte Euch um Vergebung, dass ich Euch den Vergleich übel nahm. Er war ja nicht bös gemeint.“
Wenn er in dieser leisen, tiefen Tonlage sprach und Gillian mit seinen dunklen, tiefgründigen Augen ansah, konnte sie sogar noch besser nachvollziehen, warum so manche Frau ihn gern näher kennengelernt hätte. „Nehmt Platz“, bat sie. „Ihr müsst doch müde sein.“
„Allerdings, das kann man wohl sagen“, bestätigte er, während er sich setzte. „Müde des Geredes, wonach ich gar nicht der leibliche Sohn meiner Mutter bin, sondern ein Zigeuner-Junge. Gekauft oder gestohlen von fahrenden Ägyptern. Als Ersatz für das eigene tote Kind.“
„Ich weiß, wie sehr einem Gerüchte zu schaffen machen können“, sagte sie, denn sie sprach aus Erfahrung. „Böse Zungen behaupten zum Beispiel andauernd, meine Schwestern und ich würden heiraten oder sollten es zumindest. Man hat auch unterschiedlichste Vorstellungen von dem passenden Kandidaten. Oder man hält uns für abartig, missgestaltet oder für dumme Puten. Nur weil wir ledig sind.“
„Ärgerlich, nicht wahr?“, sagte er, wobei er sich mit verschränkten Händen vorbeugte, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt. „Nur ist es leider so: Ihr könnt sicher sein, dass Ihr weder abartig noch missgestaltet noch dumm seid. Ich hingegen kann nicht wissen, ob ich nicht doch irgendein Zigeuner-Wechselbalg bin. Meine Mutter hatte bei ihrem einzigen Kind eine schwere Geburt und setzte kein anderes mehr in die Welt. Außerdem war es kein Geheimnis, dass sie meinen Vater hasste und auf dem Sterbebett verfügte, ihre Mitgift solle an ihr leibliches Kind gehen, nicht an ihren Gemahl oder ihre Stiefkinder. Lord Raymond hatte vor mir nämlich noch zwei ältere Söhne. Simon, der bei den Vorbereitungen zum Kreuzzug starb, und Armand, den Mutter nicht leiden konnte.
Eins jedenfalls leuchtet sogar mir ein: Wenn ihr einziges Kind bei der Geburt starb und danach feststand, dass sie keine weiteren mehr bekommen konnte, wäre es durchaus nachvollziehbar, dass sie einen Säugling gekauft oder geraubt hat. Damit ihr Mann und ihre Stiefsöhne keinen Anspruch auf ihre Mitgift erheben konnten.“ Er sah Gillian vorsichtig von der Seite an. „Das klingt, als wäre sie ein furchtbarer Mensch gewesen, nicht wahr? Wer weiß, wie sie sich entwickelt hätte, wäre sie nicht von ihrer Familie in die Ehe gepresst worden. Unter Androhung der Verbannung ins Kloster. Leider musste sie diese Ehe eingehen, und das hat sie verbittert und unversöhnlich gemacht. Mein Vater hat sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit gedemütigt, aber sie ließ sich nie unterkriegen. Für Armand und mich war das Zuhause ein Kriegsschauplatz. Jedenfalls kam es uns oft so vor. Doch statt uns auch noch gegenseitig zu befehden, verbündeten wir uns und versuchten, auf diese Weise etwas Frieden zu finden.“
Kein Wunder, dass ihm sein Halbbruder so sehr am Herzen lag und dass er ihm jeden Gefallen tat. „Bei uns zu Hause herrschte auch nicht eitel Sonnenschein“, gestand sie, den Becher mit beiden Händen umschließend. „Doch im Gegensatz zu der Euren hat meine Mutter nie gegen ihren Mann aufbegehrt. Er wollte unbedingt einen Sohn. Sie war zu furchtsam, zu schwächlich. Ich ebenfalls.“
„Das mag ich kaum glauben.“
Sie lächelte ihm wehmütig zu. „Doch, doch. Ich bin dauernd ausgerissen und ins Dorf gelaufen. Zu Old Davy und seiner Frau. Bei denen kroch ich unter, wenn meine Mutter mal wieder einen Tobsuchtsanfall ihres Mannes über sich ergehen lassen musste.“ Sie spürte, wie ihr die Schamröte heiß ins Gesicht stieg. „Ich überließ es Adelaide, sich mit ihm anzulegen. Sie hatte den nötigen Schneid. Ich vergesse nie, wie sie ihn einmal anging, als er Mutter schlug. Da nannte sie ihn einen Feigling, weil er die Hand gegen eine Frau erhob. Wie er sie da ansah, das hättet Ihr miterleben müssen! Nicht etwa hasserfüllt. An Hass waren wir gewöhnt. Auch nicht angewidert. Sondern irgendwie ehrfürchtig. An dem Tag habe ich erfahren, dass Achtung nicht von Muskeln, Knochen, Sehnen oder Körpergröße
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