Hilflos in deinen Armen
gleich mit.
Die Messe ging zu Ende; Gillian wandte sich zur Tür. Eigentlich hatte sie erwartet, dass Bayard noch eine Weile blieb, wie es seine Gewohnheit war. Er folgte ihr aber hinaus in den Hof, was den beiden neugierige Blicke der dort beschäftigten Dienstboten einbrachte.
„Ihr hättet mir nicht folgen dürfen“, schalt sie leise.
„Ich muss Euch sprechen“, erwiderte er mit eindringlicher Stimme und einem tief besorgten Ausdruck in seinen dunklen Augen. „Dunstan ist verschwunden!“
Abrupt blieb sie stehen. „Verschwunden?“
„Letzte Nacht hatten Bran und Alfric Wachdienst. Sie berichteten mir, der Kastellan habe die Burg verlassen, und zwar mit einem großen Bündel. Anscheinend besucht er häufig eine gewisse Peg, die Schankmagd unten in der Dorfschänke.“
Gillian hatte geglaubt, sie kenne ihren Verwalter in- und auswendig. Offenbar hatte er aber doch seine Geheimnisse.
„Laut Wachposten kehrt er gewöhnlich vor den Laudes zurück“, fuhr Bayard fort. „Ich befahl den Wachen, ihn bei seiner Rückkehr gleich zu mir zu schicken. Er hat sich aber noch nicht gemeldet. Entweder lungert er länger als sonst bei dieser Peg herum, oder er hat sich aus dem Staub gemacht. Letzteres scheint mir wahrscheinlicher, zumindest nach dem Saustall, den ich in seinem Gemach vorfand.
Heute Morgen habe ich noch einmal nachgeschaut. Es sieht so aus, als wäre zwar der Großteil seiner Kleidung fort, jedoch nichts Wertvolles. Ich glaube, der Kerl hat seine Habseligkeiten zusammengerafft und sich verkrümelt.“
Gillian war zwar unbestreitbar erleichtert, konnte sich jedoch eines dumpfen Grausens nicht erwehren. „Wieso sollte er denn wegwollen?“
Bayards Miene wurde weicher. „Möglicherweise deshalb, weil er Euch nach wie vor zugetan ist. Anscheinend hat er sich davongemacht, ohne einer Menschenseele ein Sterbenswörtchen zu verraten.“
Das Geheimnis, die gemeinsame Schande, war also noch gewahrt! Vielleicht! Vorerst.
„Bayard …“, begann sie, denn wieder kam ihr der Gedanke, der Ritter solle am besten vielleicht ebenfalls abreisen und Averette verlassen. Ehe sie aber den Gedanken zu Ende führen konnte, hallte ein heiserer Schrei über den Hof. „Mylady!“
Am Tor stand der Flurschütz, schwer atmend, das Gesicht schweißüberströmt, eine Hand gegen die offene Pforte gestützt, die andere in die Hüfte gepresst, als habe er Seitenstiche.
Mit einem Ausruf des Entsetzens raffte Gillian die Röcke und eilte auf Hale zu. Bayard überholte sie und erreichte das Tor als Erster, doch der Flurschütz beachtete ihn nicht und wandte sich direkt an seine Burgherrin. „Dunstan …“, keuchte er. „Mylady, Dunstan ist tot!“
„Tot?“, wiederholte sie fassungslos. Dunstan sollte tot sein? Unmöglich. Er war doch am Abend noch hier gewesen, gesund und munter! Außerdem hatte Bayard berichtet, er sei durchs Burgtor geritten.
„Wo? Wann?“, wollte Bayard wissen.
„Weiß ich nicht, Mylord“, antwortete Hale, der allmählich wieder zu Atem kam. „Ich habe ihn gefunden. An einen Baum gebunden. In einer Wiese. Schlimm zugerichtet, Mylady, und aufgeschlitzt, und außerdem haben sie ihm …“ Der Flurschütz schluckte heftig und wandte den Blick ab. „Das ist nichts für Eure Ohren, Mylady.“
Die Torwachen und Streifenposten, die alles mitgehört hatten, wurden ganz grün im Gesicht, als wäre ihnen ebenso speiübel, wie es Gillian wurde. Die Magd Seltha, die gerade zum Brunnen ging, brach in Tränen aus.
Offenbar war der Kastellan, kaum dass er der Burg den Rücken gekehrt hatte, einer Bande von Halsabschneidern in die Hände gefallen. Und weswegen wollte er fort von Averette?, fragte sich Gillian. Nur deinetwegen. Weil du dich hast hinreißen lassen! Wegen der Szene, die er gesehen hat. Die Sache mit dir und Bayard.
Jetzt war er tot. Ermordet. Gemeuchelt und verstümmelt.
„Hast du ihn angerührt?“, fragte Bayard den Flurschütz.
„Nein, Mylord.“
„Gut.“
Völlig benommen, von würgender Übelkeit ergriffen, fasste sie Hale beim Arm. „Du hattest doch nicht etwa dein Söhnchen dabei?“
„Nein, Gott sei Dank nicht, Mylady. Der hat bei meiner Schwester geschlafen.“
„Keine Spur von den Lumpen, die das auf dem Gewissen haben?“, hakte Bayard nach.
Abermals schüttelte Hale den Kopf. „Nein, nicht die geringste. Ich hab allerdings auch nicht allzu genau nachgesehen.“
Was Gillian ihm nicht verübeln konnte.
„Ich fürchte, Mylady“, vermutete Bayard, „da steckt kein
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