Hill, Susan
Augen hatten das flache, nach innen gekehrte Aussehen einer frisch Verwitweten.
»Wie kommen Sie zurecht?«
»Geht so, Dr. Deerborn, einigermaßen. Und ich weiß, dass es für Harry das Beste war. Ich weiß das.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Es ist schwer. Natürlich ist es schwer.« Cat schob ihr die Schachtel mit den Papiertaschentüchern hin.
»Nachts höre ich ihn immer noch … Ich wache auf und kann ihn immer noch atmen hören. Ich spüre ihn im Zimmer. Das klingt für Sie vielleicht verrückt.«
»Nein, überhaupt nicht. Das ist ganz normal. Ich würde mir Sorgen machen, wenn das nicht passiert.«
»Ich werde also nicht verrückt?«
»Absolut nicht.«
Die Frage, die sie immer stellten oder unausgesprochen im Raum stehen ließen, damit der Arzt sie aufnahm. Iris Chater entspannte sich, und ihr Gesicht nahm etwas mehr Farbe an.
»Außer dass Sie Harry vermissen, wie steht’s mit Ihrer eigenen Gesundheit?«
»Ich bin nur furchtbar müde. Und ich kann kaum essen. Das kommt und geht.« Sie rutschte auf dem Stuhl herum, nahm ihre Handtasche vom Boden hoch und stellte sie wieder hin. Cat wartete.
»Harry hatte seinen Appetit verloren.«
»Ich weiß. Er hat ihn verloren, weil er Krebs hatte und weil er einen langen Kampf durchstehen musste. Sie haben Ihren verloren, weil Sie trauern. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Sie sagen, der Appetit kommt und geht, also essen Sie, wenn er kommt. Essen Sie alles, was Ihnen schmeckt … Ihr Appetit wird sich wieder normalisieren, wenn Sie so weit sind.«
»Ach so.«
»Machen Sie sich Sorgen, weil Sie nachts allein im Haus sind?«
»Oh, nein, Dr. Deerborn. Er ist bei mir, wissen Sie … Harry ist immer da.«
Wie viele von Cats älteren Patienten war Iris Chater nicht krank, brauchte nur Beruhigung und ein offenes Ohr. Trotzdem spürte Cat, dass Iris etwas zurückhielt. Sie wartete noch einen Moment, aber es kam nichts.
»Gut, kommen Sie in einem Monat wieder zu mir. Ich möchte wissen, wie Sie zurechtkommen, und wenn zwischendurch etwas ist …«
Iris Chater erhob sich umständlich, griff nach ihrer Handtasche, ging zur Tür und drehte sich dort im letzten Augenblick noch einmal um.
»Da ist noch was, oder?«, fragte Cat sanft.
Wieder füllten sich die Augen der Frau mit Tränen.
»Wenn ich es nur wissen könnte. Wenn ich mir nur sicher sein könnte, dass es ihm gut geht. Gibt es da eine Möglichkeit?«
»Sind Sie sich nicht sicher? Tief in Ihrem Herzen? Kommen Sie … Harry war ein guter Mann.«
»Das war er, nicht wahr? Das war er wirklich.«
Sie ging immer noch nicht.
»Ich frage mich …«
Sie schaute zu Cat, dann rasch wieder weg. Was ist es, rätselte Cat, was möchte sie mich fragen, wegen was möchte sie beruhigt werden?
»Ich muss manchmal so komisch atmen.«
Iris Chater fehlte nichts. Sie hatte Angst … Angst davor, so sterben zu müssen wie ihr Mann, und war verletzlich durch seinen Tod. Cat untersuchte sie kurz. Die Frau zeigte keine Symptome, hatte keine Schmerzen in der Brust, war nicht atemlos, und ihre Lunge war frei.
»Ich möchte Ihnen keine Schlaftabletten oder Beruhigungsmittel verschreiben. Ich glaube wirklich nicht, dass Sie die brauchen.«
»Oh, nein, so was möchte ich auch nicht, Dr. Deerborn.«
»Aber Sie müssen sich entspannen.«
»Das ist genau das, was ich nicht kann, verstehen Sie.«
»Haben Sie sich je eine dieser Entspannungskassetten angehört … besänftigende Musik und Übungen zur Beruhigung des Atems?«
»Wie bei diesen östlichen Religionen?«
»Nein, damit hat es nichts zu tun, sie helfen nur beim Entspannen. Leider kann ich sie Ihnen nicht verschreiben, aber es gibt sie im Bioladen. Sie sind nicht teuer. Warum schauen Sie sich dort nicht mal um … bitten das Personal, Ihnen vielleicht eine zu empfehlen? Wenn Sie so eine Kassette kaufen und sich mit deren Hilfe täglich eine Viertelstunde entspannen, werden Sie es bestimmt hilfreich finden. Sie haben Ihren Mann verloren, mit dem Sie fünfzig Jahre lang verheiratet waren, Mrs Chater. Was Sie durchmachen, ist ganz normal. Sie werden sich noch eine Weile lang nicht wie Sie selbst fühlen, wissen Sie.«
Der Rest der Sprechstunde nahm seinen Lauf, von Halsschmerzen über Menstruationskrämpfe zu arthritischen Gelenken und Kindern mit Mittelohrentzündung.
Um zwanzig vor zwölf brachte ihr Jean einen Becher Kaffee.
»Nur noch Mrs McCafferty.«
In den vergangenen hektischen Stunden hatte Cat diesen Termin verdrängen
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