Himmel der Suende
dran.
„Alles okay“, sagte Anya leise.
„Gut“, antwortete er. „Dann fahre ich jetzt los. Aber ich bleibe ganz in der Nähe.“
Das hatte er vorhin schon einmal gesagt, obwohl er da behauptet hatte, dass es hier sowieso nichts gab, was er hätte tun können, um sich die Zeit zu vertreiben. Anya fiel außerdem auf, dass er das sonst nie sagte - schon gar nicht zweimal. Jetzt jedoch klang er beinahe schon fürsorglich. Ganz untypisch für ihn.
Ging es ihm ähnlich wie ihr? Spürte er auch, dass hier irgendetwas nicht stimmte ... wie unheimlich es hier war? Doch ehe sie ihn das fragen konnte, hatte er die Verbindung bereits beendet. So blieb ihr nichts weiter übrig, als das Telefon zurück in die Tasche zu stecken und das zu tun, wozu sie hierhergekommen war.
„Folgen Sie mir“, sagte der Butler und ging steifen Schrittes zum hinteren Ende der kunstvoll gefliesten Halle. Dort war in die Wand - unterhalb der beiden sich auf halber Höhe zu einer Galerie treffenden Treppenschwingen - eine dicke, niedrige Tür eingelassen. „Der Herr erwartet Sie im Kellergewölbe.“
Anya schoss eine Gänsehaut über den Rücken. Sicher, SM-Spiele und dunkle Gewölbe passten rein klischeemäßig wie die Faust aufs Auge - der böse Graf bestraft die Dienstmagd, der Folterknecht malträtiert die der Hexerei angeklagte Bauersfrau. Das waren durchaus typische Rollenspiele für Sadomasochisten, aber hier in diesem alten Gemäuer hatte es eine erschreckend reale Qualität. Es fühlte sich überhaupt nicht wie ein Spiel an, und Anya erkannte, dass sie tatsächlich immer mehr echte Angst bekam. Doch was sollte sie tun?
Was würde passieren, wenn sie, zum ersten Mal seit sie in London war, dem Kunden und damit auch Claire den Gehorsam verweigerte und jetzt umdrehte, um wieder zu gehen?
Wie würde man sie bestrafen?
Würde man sie verprügeln? Das schreckte Anya nach allem, was ihr in Kiew widerfahren war, nicht, damit würde sie vielleicht sogar leben können, zumal sie sich ausmalte, dass man sie nicht so hart herannehmen würde, dass sie am nächsten Tag nicht wieder würde arbeiten können. Dazu war Claire viel zu sehr auf das Geld aus, das sie verlieren würde, wäre eines ihrer „Stütchen“ über einen längeren Zeitraum nicht einsatzbereit. Viel eher würde Claire ihr zunächst gar nichts tun - sondern sich stillschweigend auf die Suche nach einem Ersatzmädchen begeben und Anya, sobald sie eines gefunden hatte, sang- und klanglos auf die Straße setzen. Dann wäre Anya wieder ohne ein Zuhause, und diesmal auch noch in einem völlig fremden Land.
Dieser Gedanke schreckte sie sehr viel mehr als alle Prügel der Welt ... und auch mehr als die Kellertür, die vor ihr lag und die der gespenstisch wirkende Butler gerade mit einem lang gezogenen quietschenden Knarren öffnete.
„Die Treppe nach unten und dann immer den Gang entlang“, sagte er und trat zur Seite. Offenbar war nicht geplant, dass er sie nach unten in die gähnende Dunkelheit begleitete.
Er nahm von einem Tisch an der Wand einen alten dreiarmigen Kerzenständer, entzündete die Dochte mit einem fast schon antiken Gasfeuerzeug und reichte ihn ihr.
Als sie zögerte, sagte er noch einmal: „Der Herr wartet nicht gerne.“
So sammelte Anya all ihren Mut, nahm den Leuchter entgegen und trat durch die niedrige Pforte.
Die Stufen waren aus Stein und in vielen Jahrzehnten, vielleicht gar Jahrhunderten, von zahlreichen Tritten abgewetzt und glatt - nicht gerade bequem und sicher für ihre halbhohen Absätze, und sie überlegte sich, die Schuhe auszuziehen. Doch die Vorstellung, die Treppe mit ihren nackten Füßen zu berühren, jagte ihr eine weitere Gänsehaut über den Körper, und sie entschied sich dagegen.
Sie war gerade einmal vier Schritte nach unten gegangen, als hinter ihr die Tür ins Schloss gedrückt wurde.
Sie war allein.
Allein in der durch die drei kleinen Flammen nur spärlich erleuchteten Finsternis. Allein in der Stille und mit ihrer Angst... und dem Bewusstsein, dass der Herr dieses Anwesens irgendwo in dem Dunkel unter ihr wartete ... auf sie ... und darauf, ihr wehzutun.
Sergej wollte gerade seinen Wagen wieder starten, als dicht neben dem Fenster ein Schatten auftauchte. Reflexartig drehte er sich herum ... und starrte direkt in die Mündung einer abgesägten Schrotflinte.
Das Gewehr war zu dicht, um einem möglichen Schuss auszuweichen oder dass er noch Zeit haben würde, eine seiner eigenen Waffen zu ziehen. Und der Mann, der es
Weitere Kostenlose Bücher