Himmel der Suende
in Russland. Sosehr es seine Aufgabe war, im Studio dafür zu sorgen, dass die Mädchen folgsam blieben, sosehr war es auch sein Job, sie zu beschützen. Mit ihm in ihrer Nähe war sie sicher, das wusste Anya. Auch wenn er sie regelmäßig fickte - und dabei alles andere als zimperlich war und ihr auch gerne Schmerzen zufügte -, hatte er ihr jenseits davon noch nie wehgetan. Sie hatte ihm auch noch nie Anlass dazu gegeben.
„Seid immer gut zu Sergej, und er geht für euch durch die Hölle“, hatte Claire ihnen an ihrem ersten Tag in London gesagt, direkt nachdem sie aus dem Bus aus Kiew gestiegen waren und das Studio betreten hatten und noch ehe sie auf ihre Zimmer gebracht worden waren. „Aber kommt auch nur ein einziges Mal auf die Idee, ungehorsam zu sein, und ihr geht durch die Hölle.“
So war Sergej vom ersten Tag an zugleich ihr Wächter und ihr Behüter in dieser fremden Welt: einer Welt, in der, obwohl die meisten Frauen sie wohl als Sklaverei empfunden hätten, Anya sich nach ihrer Kindheit und Jugend in den Waisenhäusern und auf den Straßen Kiews wohlfühlte. Als Hure kannte sie ihren Platz, und für sie gab es keine Sorgen und keine Angst vor dem Hunger und der Verlorenheit, und die einzig reale Verzweiflung war die, von der sie träumte - in Träumen, die sich wie Erinnerungen anfühlten. Erinnerungen an ein früheres Leben, das, obschon sie darin so viel mächtiger war, gleichzeitig schlimmer war als alles, was sie in ihrer alten Heimat erlitten und erduldet hatte.
„Wir sind gleich da“, sagte Sergej knapp und bog auf einen noch engeren und schlechter ausgebauten Weg ab, der leicht kurvig zwischen uralten Brombeer- und Hagebuttenhecken um einen der Hügel herumführte. Kaum vorstellbar, dass hier jemand leben sollte, der sich die Dienste eines von Claires Mädchen leisten konnte.
„Was wird von mir erwartet?“, fragte sie.
„Eigentlich, wenn es nach den Wünschen des Kunden gegangen wäre, sollte ich dich mit verbundenen Augen und gefesselt abliefern“, antwortete er. „Aber so machen wir keine Geschäfte. Du gehst hinein, checkst die Lage und die Kohle, und wenn alles okay ist, rufst du mich kurz an. Wie immer. Ich bleibe in der Nähe. Wo sollte ich hier, am Arsch der Welt, auch anderes hin?“
„Für wie lange bin ich gebucht?“
„Zwei Stunden. Macht runde tausend Pfund. Trinkgelder darfst du behalten.“
„Also keine Extras oder Besonderheiten?“
„Er hat nach dem Mädchen gefragt, das die meisten Schmerzen verträgt, und da fiel Claires Wahl natürlich auf dich.“
„Ist das auch der Grund, warum du mich den anderen Frauen im Studio vorziehst?“, fragte sie unvermittelt, ehe sie sich dessen überhaupt so recht bewusst wurde. „Weil du mit mir härter und rauer umgehen kannst als mit ihnen?“
Sergejs Gesicht verfinsterte sich schlagartig, und plötzlich lag eine merkwürdige Spannung in der Luft. Dann räusperte er sich.
„Stört es dich?“, fragte er.
„Was? Dass du so hart mit mir umgehst?“
„Nein. Dass ich dich so oft nehme.“ Er räusperte sich. „Dass ich nur noch dich nehme.“
Im Gegenteil - auf eine merkwürdige Art und Weise schmeichelte es ihr sogar. „Äh, nein, ich wollte nur ...“
„Gut“, schnitt er ihr das Wort ab. „Dann stell solche Fragen nicht. Verstanden?“
Sie senkte den Kopf und sagte dann leise: „Ja.“ Seine Ruppigkeit änderte nichts an der Wärme, die sich um ihr Herz legte, als sie begriff, was er mit dem Gesagten gemeint hatte. Es bedeutete schon eine ganze Menge, dass ein Kerl, der sie alle haben konnte - die Schönsten der Schönen -, nur noch sie wollte. Auf eine verdrehte Weise war das das netteste Kompliment, das man ihr je gemacht hatte.
Vor ihnen tauchte in der Schneise, die der schmale Weg durch die Hecken und das niedrige Gehölz schlug, ein Gebäude auf, wie Anya es hier nicht vermutet hätte.
Es war ein wenn auch altes, aber trotzdem noch ausgesprochen prunkvolles Herrenhaus - drei hohe Stockwerke und zwei Seitenflügel. Ein würdevoller Landsitz aus vorviktorianischer Zeit. Das Schieferdach trug zahllose Schornsteine, und am Westflügel erblickte Anya einen zweistöckigen Jugendstil-Wintergarten, dessen Glas schon so alt war, dass es schlierig, an den Sprossen dunkel beschlagen und an vielen Stellen mit Moos bewachsen war. Doch im Gegensatz zu vielen ähnlichen Gebäuden in Kiew und Umgebung war es nicht eingefallen oder baufällig, und sämtliche Fenster und Scheiben waren intakt.
Gleichzeitig wirkte
Weitere Kostenlose Bücher