Himmel der Suende
Diskretion; zu bieder durfte es allerdings auch nicht sein. Das Kleid war dafür geradezu wie geschaffen, und verglichen mit den Lumpen, die sie in Kiew getragen hatte - milde Gaben aus der Altkleidersammlung der Heilsarmee -, fühlte Anya sich darin wie eine Prinzessin. Sie hatten London hinter sich gelassen und fuhren auf dem M26 nach Südosten in Richtung Maidstone. Sergej hatte, wie immer, auf der ganzen Fahrt noch nicht ein Wort gesprochen.
Er würde ihr, ebenfalls wie immer, die Besonderheiten und Wünsche des Kunden erst mitteilen, wenn sie angekommen waren.
Anya war gespannt.
Die „Stütchen“, wie Claire ihre Mädchen nannte, machten selten Haus- und nie Hotelbesuche.
„Die Illusion einer echten Kurtisane oder Lustsklavin lässt sich nur in dem entsprechenden Ambiente aufrechterhalten“, pflegte sie immer zu sagen. Nur wenn der Kunde jemand besonders Einflussreiches war oder Unsummen bezahlte, machte sie eine Ausnahme. Aber alle ihre Huren hatten den klaren Befehl, sich in dem Haus des Gastes ebenso diszipliniert und tadellos zu verhalten wie im Studio.
Claires Erfolg war in ihrem guten Auge für Schönheit und Sex-Appeal begründet und darin, nichts davon zu verschenken - aber vor allem hatte er seine Ursache in der glasklaren und eisenharten Regel, dass der Wille der Gäste und Kunden ihren Mädchen Gesetz war, dass sie alles taten, was ihnen befohlen wurde ... im Rahmen dessen, was Claire für vertretbar hielt und was legal war.
Sergej lenkte den Q7 vom M26 auf eine Landstraße, und schon nach wenigen Kilometern fühlte Anya sich in eine andere Zeit, ja in eine andere Welt versetzt. Nichts in der pittoresken Landschaft erinnerte mehr an die Großstadt, die sie gerade hinter sich gelassen hatten. Flache Wiesen und Felder, niedrige lang gezogene Hügel mit kleinen Hütten aus Bruchstein. Sogar der Asphalt auf der Straße schien hier Jahrzehnte älter zu sein als in London.
Sie fuhren durch ein Dorf, das wie von der Zeit vergessen zu sein schien und in dem der frisch polierte Audi mit seinem LED-Tagfahrlicht wirkte wie ein Raumschiff aus einer anderen Galaxie. Doch Anya war sich sicher, die Bewohner der verschlafenen Gemeinde hätten sich auch nach ihnen umgedreht, wenn sie in einem weniger auffälligen Wagen gefahren wären. Anya kannte solche Dörfer aus ihrer Heimat. Jeder kannte jeden - und jeder Fremde fiel sofort auf.
Nachdem sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, wurde die Landschaft noch verlassener, und auch die Straße verwandelte sich mehr und mehr in einen Feldweg. Das Fahrwerk des SUV steckte die Unebenheiten und Schlaglöcher zwar mit Leichtigkeit weg, aber Anya wurde dennoch unbehaglich zumute.
Es war, als wäre es hier draußen - obwohl keine einzige Wolke am Himmel stand, für südostenglische Verhältnisse schon beinahe eine Seltenheit - düsterer als eben noch auf dem Motorway. Als würde der dunkle Lehmboden der Felder das Licht vom Himmel schlucken.
Und während sie, ehe sie durch das Dorf gefahren waren, noch zahlreiche Schafe, Pferde, Reiher und sogar ein Reh gesehen hatten, gab es hier nur noch Krähen und Raben, die fette Würmer aus dem aufgepflügten Boden pickten und den Wagen mit ihren unheimlichen schwarzen Augen argwöhnisch und zugleich hungrig beobachteten - so als würden sie darauf warten, dass er in dieser Einöde einen Unfall erleiden würde und sie sich an seinen Insassen gütlich tun konnten.
Auch in ihrem Traum von der brennenden Stadt hatte es Raben und Geier gegeben ... die sich im Licht der zum Himmel schlagenden Flammen an den unzähligen Leichen satt gefressen hatten. Leichen, die Anya überhaupt erst dazu gemacht hatte.
Sie schüttelte den Kopf und verscheuchte die unangenehmen Gedanken. Sie hatte Sergej bei sich - was sollte ihr schon passieren? Nach allem, was man sich von ihm erzählte, war er in den Slums von Moskau groß geworden - und dass er die überlebt hatte, sagte schon eine ganze Menge über ihn aus. Über seine Stärke, seine Zähheit... und vor allem über seinen Willen zu überleben.
Anya betrachtete die großen Fäuste, mit denen er das mit Leder bespannte Lenkrad hielt. Auch sie waren tätowiert: auf dem linken Handrücken das russische Kreuz - mit seinen zwei Kreuzarmen oben und dem schrägen Fußarm unten - und auf dem rechten eine Kompassrose. Von denen trug er auch zwei unter seinen Schlüsselbeinen. Sie waren Zeichen, wie sie nur zu gut wusste, einer ehemals hohen Position in der Hierarchie des organisierten Verbrechens
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