Himmel über dem Kilimandscharo
langsam und bedächtig einige Schlussakkorde. Die Großmutter stieß heftig die Luft aus, ob aus Erleichterung oder aus Zorn, war schwer auszumachen. Sie ging zum Sofa und schüttelte eines der Kissen auf, setzte es wieder an seinen Platz und schlug mit der Hand in die Kissenmitte, damit die Enden akkurat nach oben standen.
» Was ist nun?«, fragte sie in Charlottes Richtung.
» Ich weiß nicht…«
Das Gesicht der Großmutter war mit den Jahren kleiner geworden, auch faltiger, doch sie trug das Haar immer noch straff zurückgebunden und bedeckte den Knoten mit einer spitzenbesetzten Haube. Jetzt wurden die Kerben um ihren Mund tiefer, wie immer wenn sie sich ihrer eigensinnigen Enkelin entgegenstemmen musste.
» Du weißt es nicht? Jesus Christus im Himmel! Worauf willst du denn noch warten? Dass dir der Kaiser von China zu Füßen fällt? Ein afrikanischer Prinz?«
» Ich liebe ihn nicht!«
Jetzt reichte es der Großmutter endgültig. Keine ihrer Töchter und auch keine ihrer Enkelinnen hatten je solchen Widerspruchsgeist in sich getragen wie Charlotte. Es war das » ungute« Blut ihrer Mutter, dieser fremden Person, mit der sich ihr armer Sohn damals eingelassen hatte und die– das war ihre feste Meinung– auch die Schuld an seinem allzufrühen Tod trug.
» Was sind das für Hirngespinste! Liegst deinen Großeltern mit zweiundzwanzig Jahren noch auf der Tasche und träumst von der großen Liebe. Woher hast du nur diese neumodischen Ansichten?«
Charlotte schwieg. Sie kannte diese Vorhaltungen seit Jahren. Ein junges Mädchen hatte bei der Wahl des Bräutigams zuerst an die Familie zu denken. Wichtig war, einen Ehemann mit guter Position und ausreichendem Einkommen zu ergattern, selbstverständlich musste er auch die richtige Konfession haben und einen reinen Leumund. Wenn ein solcher Kandidat gefunden war und er sich einer Verbindung geneigt zeigte, dann hatte man » Ja« zu sagen.
» Die wirkliche Liebe ist ein Samenkörnchen, das man in den Nährboden der Ehe legt, damit es im Laufe der Jahre hervorsprießen und zu einem prächtigen Baum gedeihen kann. Die andere Liebe, dieses romantische Zeug, das in den Köpfen vieler junger Leute herumspukt, ist nichts als ein Strohfeuer. Wer eine Ehe auf diese sündige Leidenschaft gründet, der rennt unweigerlich in sein Unglück, denn von all der Glut wird nur Asche in seinen Händen zurückbleiben…«
Die Großmutter verkniff sich den Hinweis auf die » Schundliteratur«, in der jungen Mädchen von derart » falscher« Leidenschaft erzählt wurde, so dass die erhitzten Gemüter glaubten, der künftige Ehemann müsse den dort beschriebenen Helden gleichen.
» Um vier Uhr wird er vor der Tür stehen«, kürzte die Großmutter das Gespräch ab. » Bis dahin wirst du dich hoffentlich besonnen haben!«
Sie warf noch einen prüfenden Blick über die Stube, befand alles zum Empfang des Gastes gerichtet, dann wandte sie sich zur Tür. Jetzt war es kurz nach drei, sie musste nach oben, den Großvater aus dem Mittagsschlaf wecken und ihm beim Ankleiden helfen, denn seine Gegenwart war bei dem anstehenden Besuch unbedingt erforderlich. Seit einigen Monaten kränkelte Pastor Dirksen, sein Rücken wollte nicht mehr, manchmal konnte er vor Schmerzen weder gehen noch sitzen. Auch mit dem Magen stand es nicht zum Besten, der Arzt hatte Natron und eine strenge Diät verordnet, und die Großmutter hatte die ständige Tabakraucherei für dieses Leiden verantwortlich gemacht.
Seufzend legte Charlotte den Tastenschoner wieder an seinen Platz, es war noch immer der gleiche, den ihre Mutter vor vielen Jahren gestickt hatte, das seidene Blütenmuster war kaum verblasst.
Noch eine Stunde, dann würde sie sich entscheiden müssen. Christian Ohlsen hatte sie gebeten, seine Frau zu werden, das war vor zwei Wochen gewesen, als er sich nach einem Besuch verabschiedete und sie beide für einen Augenblick ohne Zeugen an der Haustür standen. Charlotte hatte sich Bedenkzeit erbeten, und Christian hatte sie ihr gewährt. Er wolle sie nicht bedrängen, doch er wäre der glücklichste Mensch der Welt, wenn sie sich für einen gemeinsamen Lebensweg entscheiden könnte.
Christian Ohlsen hatte nichts von einem Romanhelden an sich, er war weder ein hochgestellter Herr, noch besaß er ein dunkles Geheimnis, und besonders gut sah er auch nicht aus. Aber selbst Charlotte war klar, dass es solche Helden im wirklichen Leben nicht gab. Zumindest in Leer hatte sie noch keinen entdeckt. Es gab
Weitere Kostenlose Bücher