Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
will sie den Schein wahren.« Er zündete sich eine Zigarette an. Nach einigen tiefen Zügen sagte er: »Vielleicht sollten wir ihr den Gefallen tun. Was meinst du, mein Kind?«
»Ja … natürlich«. Aglaia wirkte verwirrt und ratlos.
»Ich meine, es sollte in der Familie bleiben«, sagte Horst. »Die Leute klatschen ja so schon genug.«
»Über was klatschen die Leute?«, fragte Elvira, die gerade hereingekommen war.
»Lass dich erst einmal umarmen, liebste Elvira«, rief Horst. »Aglaia wird dir später alles erzählen. Ich möchte jetzt nicht mehr darüber reden.« Elvira ließ sich ihr Erstaunen nicht anmerken. Sie ahnte, worüber sich Vater und Tochter da gerade unterhalten hatten, und Aglaias Gesicht sprach Bände. »Wie schön, dich endlich mal wieder bei uns zu haben, Horst. Jesko und Eberhard werden gleich kommen. Die besprechen sich gerade mit den Jägern und Jagdgehilfen. Du isst doch hoffentlich mit uns? Willi wird gleich den Gong schlagen.«
Während des Essens plauderte man zwanglos über dies und das. Eberhard berichtete stolz von der überaus ertragreichen Ernte, und Horst erzählte von seinem Leben in Berlin und seiner Arbeit im Preußischen Landtag. Nur der Name Wilhelmine fiel nicht. Die kluge Elvira hatte Jesko und Eberhard vor dem Essen angewiesen, dieses heikle Thema nicht anzuschneiden.
Bald herrschte auf Birkenau ein reges Treiben. Die Jagdsaison hatte begonnen. Das Schloss war voller Gäste, manche blieben ein oder zwei Tage, manche mehrere Wochen. Es wurde gejagt und gefeiert, und kein Abend verging ohne ein festliches Diner in großer Toilette. Schon Wochen vorher war, wie in jedem Jahr, in den Wirtschaftsräumen Hochbetrieb. Es wurde geschlachtet und geräuchert, gebacken, gebraten und geselcht, und das »Erbarmung« der Mamsell hallte durch die Gänge des Schlosses. An Dienerschaft war wahrlich kein Mangel, trotzdem arbeiteten zur Jagdsaison alle bis zur Erschöpfung. Aber das war man gewohnt, und keiner wäre auf die Idee gekommen, sich zu beschweren.
Aglaia hatte mit ihrem mittlerweile sehr ansehnlichen Bäuchlein zum ersten Mal, seit sie denken konnte, keine Freude an der lauten Geselligkeit. Eberhards Bemühen, sie nicht zu wecken, wenn er bereits um fünf Uhr früh aus dem Schlafzimmer schlich, war ohne Erfolg. Gleich darauf begannen Türen zu knallen, es erklang lautes Lachen auf den Gängen, und unter ihren Fenstern riefen die Jäger den Jagdgehilfen die ersten Befehle zu. Wagen rollten die Auffahrt hinauf, und die Kutscher knallten mit ihren Peitschen. Spätestens dann war Aglaia hellwach, und an erholsamen Schlaf war nicht mehr zu denken. Erst wenn alle Jagdgäste aus dem Haus und das letzte »Weidmannsheil« und »Guten Anlauf« verklungen waren, fiel sie noch einmal in einen kurzen unruhigen Schlaf. Blass und mit dunklen Rändern unter den Augen erschien sie dann am späten Vormittag in Frühstückszimmer, wo Elvira sie stets erwartete, um mit ihr gemeinsam das Frühstück einzunehmen. Dann unternahm sie, wenn das Wetter es zuließ, lange Spaziergänge mit Paulchen und Bello in dem inzwischen tief verschneiten Park. »Bitte entfern dich nicht zu weit vom Schloss«, mahnte Eberhard immer wieder. »Bleib in Sichtweite. Überall sind Schneeverwehungen, es ist zu gefährlich für dich allein.« Und sie hielt sich daran. Auf gar keinen Fall wollte sie ihr Kind gefährden.
Anfänglich nahm Aglaia noch an den Abendgesellschaften teil, aber das von Stunde zu Stunde lauter werdende Schwadronieren der männlichen Gäste über ihre Jagdgeschichten langweilte und vor allem ermüdete sie derart, dass sie Elvira bat, sie in Zukunft wenigstens am Abend von ihren Gastgeberpflichten zu befreien. »Kannst du das verstehen, Tante Elvira? «
»Mach dir man keinen Kopf, Liebes.« Elvira hatte volles Verständnis. »Ich schaffe das schon allein.«
Der Englischunterricht fiel zurzeit aus. Elvira war zu sehr mit den vielen Gästen beschäftigt, um an Vokabellernen zu denken. Das ständige Kommen und Gehen verlangte eine ungeheure Organisation, der Frau Koller allein kaum gewachsen war. Aber hin und wieder leistete Clemens von Mühlau Aglaia am Nachmittag Gesellschaft. Er nahm mit ihr den Tee, erzählte von seiner behüteten Kindheit, und Aglaia sprach von Tanya. Beide bewältigten damit ein wenig ihre Trauer, und es schweißte sie noch mehr zusammen.
»Ach Clemens, wie schön, dass du zu uns gefunden hast«, sagte Aglaia einmal. »Deine Freundschaft bedeutet mir so viel. Hoffentlich
Weitere Kostenlose Bücher