Himmel un Ääd (German Edition)
»alten Mülheimer
Mädchen« dies jedes Jahr taten. Irmchen wirkte gleichzeitig erschöpft und
aufgebracht. Ein bisschen merkte man das auch an der Frisur, wo auf der linken
Seite einige Strähnen wild abstanden, so als hätte sich Irmchen an dieser
Stelle die Haare gerauft. Mit ihrem Stock hinkte sie zu einem der Stühle am
Pass und ließ sich darauf nieder.
»Stimmt es, was im
Festzelt erzählt wird?«, fragte sie. »Dass Sabine aus dem Fenster gesprungen
ist?«
»Sie ist nicht
gesprungen.« Ich wusste nicht, zum wievielten Mal ich diesen Satz wiederholte.
»Aber tot ist sie.
Ich brauche einen Schnaps«, sagte Irmchen. »Hast du Sechsämtertropfen?«
Sechsämtertropfen?
Wer führte heute noch Sechsämtertropfen? Ich ging nach draußen ins Restaurant,
wo Eva die Tageseinnahmen in eine Geldkassette legte, und nahm eine Flasche
Topinambur aus dem Spirituosenregal. »Rossler« nannte man diesen Schnaps im
Badischen, denn sein Genuss hatte etwas von einer Rosskur. Dieser Schnaps
putzte die Eingeweide so gründlich durch wie »Rohrfrei« die Abwasserleitungen.
»Katharina, ich
muss. Der Babysitter wartet«, verabschiedete sich Eva.
Ich wusste, dass
sie auf dem Heimweg wie immer bei der Bank vorbeifuhr und die Geldkassette
einwarf. An der Tür traf sie mit Pawan zusammen, Arîns Freund oder Bekanntem,
so klar war das für Arîn noch nicht. Pawan jedenfalls wollte sie unbedingt,
auch Arîns Familie hätte eine enge Verbindung gern gesehen, aber Arîn wollte
vielleicht noch hinaus in die große weite Welt. Deshalb hielt sie Pawan auf
Abstand und hatte immer wieder mit mir über Liebe, Karriere, Kinder und all
ihre Zweifel geredet, mich sogar zu ihrem Vorbild erklärt, zumindest bis zu dem
Zeitpunkt, an dem dieses ganze Durcheinander begann.
»Guten Abend, Frau
Schweitzer. Ist Arîn schon fertig?«, fragte Pawan. Er war ein höflicher und
sehr ernsthafter junger Mann, der an der Fachhochschule in Deutz Maschinenbau
studierte. Ich konnte verstehen, warum die Kalays ihn gern an Arîns Seite
sahen.
»Denk schon. Komm
mit«, antwortete ich, klemmte die Flasche unter den Arm, holte zwei
Schnapsgläser aus dem Regal und ging mit Pawan zurück in die Küche. Seine Augen
leuchteten, als ihm Arîn, die die Kochklamotten gegen ein luftiges Sommerkleid
getauscht hatte, aus der Waschküche entgegenkam.
»Ein Cousin von
Pawan hat Geburtstag«, erklärte sie mir und rollte dabei mit den Augen. »Ich
kann aber auch bleiben, wenn du mich noch brauchst.«
»Ab mit euch«,
sagte ich. »Nach dem Tag tut dir ein bisschen Abwechslung gut.«
Für einen
Augenblick wäre ich am liebsten mit den beiden gegangen, hätte mich gern an den
mit allerlei Spezialitäten beladenen Couchtisch gesetzt, wie ich ihn von
Besuchen bei Arîns Familie kannte und wie es ihn bestimmt auch im Wohnzimmer
von Pawans Cousin gab. Immer wurde viel aufgefahren, immer zeigten die
kurdischen Köchinnen, wie vielfältig ihre Küche und ihr Können waren:
Kichererbsen mit Sesam, Bulgur mit Nüssen und Datteln,
Granatapfel-Gurken-Salat, Lamm-Kebab, in Rosensirup gebackene Feigen, Basbousa,
dieses feine Gebäck aus Grieß und Mohn, und noch tausend andere Dinge. Für mich
jedes Mal eine kulinarische Entdeckungsreise.
Zu gern hätte ich
beim Essen mit fremden Leuten über dies und das und auf gar keinen Fall über
mich geredet und dem kehligen Kurdisch gelauscht. Stattdessen stellte ich die
Flasche Schnaps auf den Tisch und goss Irmchen und mir einen Rossler ein.
»Ich weiß es noch
so, als wär's gestern gewesen«, orakelte Irmchen und sah auf die Keupstraße
hinaus, als stünde dort eine Leinwand. »Trübes Novemberwetter, schon seit
Wochen kalt und feucht, der Rhein eine dicke Nebelsuppe. Ich hab damals bei KHD auf der Schanzenstraße gearbeitet und konnte in der
Mittagspause nach Hause gehen. Schon vom Clevischen Ring aus hab ich den Auflauf
gesehen. Feuerwehr, Polizei, Krankenwagen. Die Rosi Mombauer ist einfach
gesprungen. Ohne Abschiedsbrief, ohne alles. ›Selbstmörderwetter‹, hat einer
von den Sanitätern gemeint.«
Irmchen sah mich
an, als wäre damit alles gesagt, und kippte den Schnaps in einem einzigen Zug
hinunter.
»Nur weil die
Mutter gesprungen ist, muss es die Tochter nicht auch tun«, widersprach ich.
»›Gemütskrank‹,
hat es damals geheißen. Sanft und scheu ist sie gewesen, die Rosi Mombauer. Im
Treppenhaus haben wir manchmal ein bisschen miteinander geredet oder uns Eier
und Mehl ausgeliehen, wenn eine von uns das beim Einkauf
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