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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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wurde. Er war der Grund, warum Alfridas Vater die Farm verlassen hatte (was stets ein wenig als Abstieg galt, wenn nicht finanziell, so doch moralisch). Er war ein Grund, äußerst vorsichtig mit Petroleum umzugehen, und ein Grund, für elektrischen Strom dankbar zu sein, trotz der höheren Kosten. Und er war etwas Schreckliches für ein Kind in Alfridas Alter, was auch immer. (Das hieß: Was auch immer sie seitdem getrieben hatte.)
    Wenn nicht das Gewitter gekommen wäre, hätte sie nie mitten am Nachmittag die Lampe angezündet.
    Sie hat noch die ganze Nacht und den nächsten Tag und die nächste Nacht gelebt, und am besten wäre ihr das erspart gelieben.
    Und gleich im Jahr danach ist in ihrer Straße der Strom verlegt worden, und sie brauchten die Lampen nicht mehr.
    Die Tanten und meine Mutter hatten selten dieselben Einstellungen zu etwas, aber in dieser Geschichte empfanden sie ähnlich. Es schwang in ihren Stimmen mit, wenn sie den Namen von Alfridas Mutter aussprachen. Die Geschichte schien für sie ein grauenvoller Schatz zu sein, etwas, das ihre Familie vor allen anderen beanspruchen konnte, eine Auszeichnung, von der sie nie lassen würden. Ihnen zuzuhören hatte mir immer ein Gefühl gegeben, als gingen obszöne Machenschaften vor sich, ein gieriges Befingern von Schauerlichem oder Verhängnisvollem. Ihre Stimmen waren wie Würmer, die in meinen Eingeweiden herumglitschten.
    Männer waren da nach meiner Erfahrung ganz anders. Männer sahen bei schrecklichen Ereignissen weg, sobald sie konnten, und benahmen sich, als hätte es, war das Ganze erst einmal vorbei, keinen Sinn, je wieder davon zu reden oder daran zu denken. Sie wollten weder sich selbst noch andere aufwühlen.
    Wenn also Alfrida jetzt davon anfangen wollte, dachte ich, dann war es bloß gut, dass mein Verlobter nicht mitgekommen war. Bloß gut, dass er sich nichts über Alfridas Mutter anhören musste oder gar herausfand, was mit meiner Mutter los war und mit meinen Verwandten und welche Armut in unserer Familie geherrscht hatte. Er schwärmte für die Oper und für Laurence Oliviers
Hamlet
, aber für Tragik – das Elend der Tragik – im normalen Leben hatte er nichts übrig. Seine Eltern waren gesund und ansehnlich und wohlhabend (obwohl er natürlich behauptete, sie seien Langweiler), und er schien von Leuten, die sich nicht auf der Sonnenseite des Lebens befanden, wenig zu halten. Rückschläge im Leben – Pech, Krankheit, Ruin – waren für ihn alles Fehltritte, und sein festes Bekenntnis zu mir erstreckte sich nicht auf meinen ärmlichen Hintergrund.
    »Sie haben mich nicht zu ihr gelassen, im Krankenhaus«, sagte Alfrida, und wenigstens sagte sie das mit ihrer normalen Stimme, ohne seelische Vorbereitung durch besondere Pietät oder ölige Erregung. »Ich hätte mich wahrscheinlich auch nicht reingelassen, wenn ich in ihrer Haut gesteckt hätte. Ich habe keine Ahnung, wie sie aussah. Wahrscheinlich in dicke Verbände eingewickelt wie eine Mumie. Oder wenn sie’s nicht war, hätte sie’s sein müssen. Ich war nicht da, als es passiert ist, ich war in der Schule. Es wurde sehr dunkel, und der Lehrer knipste das Licht an – in der Schule hatten wir schon Strom –, und wir mussten alle dableiben, bis das Gewitter vorbei war. Dann ist meine Tante Lily – deine Großmutter – gekommen und hat mich abgeholt und zu sich mitgenommen. Und ich habe meine Mutter nie wiedergesehen.«
    Ich dachte, das sei alles, was sie sagen wollte, aber nach kurzer Pause fuhr sie fort, mit einer Stimme, die sich ein wenig aufgehellt hatte, als bereite sie eine Pointe vor.
    »Ich hab mir die Lunge aus dem Leib geschrien, dass ich sie sehen wollte. Ich hab ein Riesentheater gemacht, und als sie mir überhaupt nicht den Mund stopfen konnten, hat deine Großmutter schließlich zu mir gesagt: ›Es ist besser für dich, wenn du sie nicht siehst. Du würdest sie nicht sehen wollen, wenn du wüsstest, wie sie jetzt aussieht. Du würdest sie nicht so in Erinnerung behalten wollen.‹
    Aber weißt du, was ich gesagt habe? Ich erinnere mich noch genau. Ich habe gesagt: ›Aber sie würde mich sehen wollen.‹
Aber sie würde mich sehen wollen.«
    Dann lachte sie wirklich oder gab ein schnaufendes Geräusch von sich, das ausweichend und verächtlich war.
    »Ich muss mich für verdammt wichtig gehalten haben, was?
Sie würde mich sehen wollen.«
    Diesen Teil der Geschichte hatte ich noch nie gehört.
    Und sowie ich ihn hörte, geschah etwas. Es war, als

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