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Himmel und Hölle

Titel: Himmel und Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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hatte mal wieder genau ins Schwarze getroffen.
    »Ich denke schon«, behauptete ich. »Die Patienten wollen und dürfen die Verantwortung an ihre Ärzte abgeben, wenn sie sich in eine Klinik legen.« Nachdenklich rührte ich in meiner Kaffeetasse. »Professor Aigner macht den Patientinnen und ihren Angehörigen
immer klar: Wir haben das, was auf Sie zukommt, schon tausendmal gemacht. Wir kriegen das wieder hin! Sie können uns vertrauen!«
    Stefan lächelte mich zärtlich an. »Wie gut, dass du durchgehalten hast.«
    »Ja«, seufzte ich erleichtert.
    Stefan stand auf, ging um den Küchentisch herum und küsste mich. Er schmeckte bittersüß nach Aprikosenmarmelade.
    »Und bevor ich gleich meinen Gemeinderatspflichten nachkomme, könnten wir uns noch …«, er sah auf die Uhr, »… ein Stündchen unserer Ehe widmen.«
    Na toll! Wie romantisch er immer war. Mein viel beschäftigter Politiker verschwendete mal wieder keine Zeit.
    »Natürlich nur, wenn die zukünftige Frau Doktor noch nicht zu erschöpft ist.«
    »Ist sie nicht!«, sagte ich, stellte die Butter in den Kühlschrank und begab mich ins Badezimmer.
    »Und auch noch nicht zu viele Mu… Dings … gesehen hat heute.«
    »Stefan! Das heißt Vulva.«
    »Okay«, rief mein Mann aus dem Schlafzimmer. »Themawechsel!«
    »Echt, findest du?«, murmelte ich und nahm die Armbanduhr ab.

8
    Von da an begann eine turbulente Zeit. Der »Dienst« im Krankenhaus war so anstrengend und hektisch, dass ich immer eingerissene Kitteltaschen hatte. Wenn irgendjemand glaubt, dass Ärzte und Schwestern Zeit für private Tratschereien haben, irrt er sich. So verbringen sie in Krankenhausserien ihre Zeit, aber die Wirklichkeit sieht anders aus.
    Was ich wirklich schätzen lernte, war die unglaubliche Leistung der Krankenschwestern. Ihre gute Arbeit war die absolute Grundlage für alles, was wir Ärzte taten.
    Stationsschwester Nina beispielsweise hatte alles im Griff: mich inklusive. Wir hatten glücklicherweise ein wunderbares Verhältnis, waren ein eingespieltes Team. Natürlich war ich auf ihre Informationen angewiesen, denn sie war ja letztlich noch viel näher dran an der Patientin. Sie war es, die über ihre private Situation, ihre Krankengeschichte und ihre Psyche Bescheid wusste. Schwester Nina wies mich oft auf bestimmte Dinge hin, und ich ging ihnen nach.
    »Sehen Sie sich mal die schlechte Wundheilung des Dammrisses der jungen Mutter von Zimmer dreiundzwanzig an«, sagte sie beispielsweise. »Das
sieht schlimm aus. Da hilft auch kein Kamillebad mehr.«
    Ich schaute mir den Schaden an: Die kleinen Schamlippen waren hinten über zwei Zentimeter miteinander verwachsen. So war kein Geschlechtsverkehr mehr möglich.
    Durch meine Ausbildung bei Professor Aigner konnte ich mit einer Wundrevision Abhilfe schaffen, sodass die Frau nicht länger leiden musste. Das heißt, ich trennte die Verwachsung. Zwei Tage später konnte die Frau entlassen werden. Sie würde in ein paar Wochen wieder schmerzfrei Geschlechtsverkehr haben können.
    Einmal kam eine 25-jährige Zweitschwangere, die sich sechs Tage vor dem Entbindungstermin vorstellte, zu uns in die Gynäkologie. Alles sah perfekt aus, es schien eine Routinegeburt zu werden. Die Geburt schritt allerdings viel zu langsam voran, und dann kam es zum Stillstand. Nichts ging mehr. Nicht vor und nicht zurück. Der Kopf des Kindes steckte fest: ein Albtraum für Mutter und Kind. Und für mich! Was sollte ich tun? Zum Glück war die erfahrene Hebamme Susanne dabei. Sie kam mit der Saugglocke, und gemeinsam stemmten wir uns mit aller Kraft gegen den Unterleib der tapferen jungen Frau. Die schrie um ihr Leben, und es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Aber mit vereinten Kräften haben wir das kleine Lebewesen aus der Frau herausgezogen. Gerade noch rechtzeitig! Ob Hebamme Susanne oder Schwester Nina: Die Verantwortung schweißte uns zusammen. Wir respektierten
uns, arbeiteten Tag für Tag zusammen. Aber wir wechselten nicht viele private Worte. Dafür hatten wir einfach nicht genügend Zeit.
    Manchmal warfen wir uns nur einen vielsagenden Blick zu. Zum Beispiel, als die Zehntgebärende ganz verschämt ankam und fragte, ob ich denn kein Mittel gegen das Schwangerwerden für sie hätte? Alles, was sie bisher probiert habe, hätte nicht funktioniert. Dieses zehnte Würmlein kam dann auch mit der Spirale in der Hand auf die Welt und schien uns auszulachen. Ich habe die zehnfache Mutter anschließend von ihrer Gebärfreudigkeit erlöst. Endgültig.

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