Himmel und Hölle
schlechtes Gewissen. Und erst recht in diesen bayrisch-konservativen Gefilden, wo sich die Leute tuschelnd nach mir umdrehten. Trotzdem. Ich war nicht eifersüchtig und hatte keinen Grund dazu.
Mit Nicole war uns der große Wurf gelungen. Sie war immer hilfsbereit, freundlich und von unglaublich rascher Auffassungsgabe. Aber das Wichtigste war: Sie ging mit unseren Kindern absolut liebevoll um. Auch wenn sie aussah, als ginge sie gerade in die Disco: Sie machte ihren Job fantastisch.
Mir war egal, was die Leute redeten. Und Stefan auch. Ich konnte mich auf ihn verlassen. In jeder Lebenslage. Auch in dieser.
Wichtig war nur, dass wir einen weiteren Schritt in unserem gemeinsamen Leben getan hatten.
Und der war im Nachhinein betrachtet nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was da noch kommen sollte.
Wie bereits gesagt: So eine Zahnspange macht echt schlank, denn außer Haus konnte ich kaum etwas essen. Ständig war ich am Zähneputzen. So gewöhnte ich mir das Essen weitgehend ab. Das tägliche Radfahren und die vielen Nachtdienste taten ein Übriges: Ich war dünn wie ein Strich in der Landschaft. Hinzu kam, dass ich noch alle notwendigen Operationen für meine Facharztprüfung zusammenbekommen musste.
Natürlich war ich nicht die Einzige, die sich in diesem Ausbildungskrankenhaus darum riss. Es wimmelte nämlich von ehrgeiziger Konkurrenz! Wobei keiner der Kollegen über einen vielbeschäftigten Gatten und zwei Kleinkinder verfügte.
Im Gegenteil: Die lieben Mitbewerber wurden zu Hause von Mutti und Vati gepäppelt und gehätschelt. In diesem letzten Stadium der Ausbildung ging es für jeden um die Wurst.
Es war ein Ausbildungsmarathon, und wir waren bei Kilometer 35. Uns allen hing die Zunge aus dem Hals. Wir japsten und brachen fast unter der Last zusammen. Aber wir kämpften weiter, so kurz vor dem Ziel. Uns taten alle Knochen weh. Jede einzelne Muskelfaser. Für viele von uns war diese Frauenklinik DAS Karrieresprungbrett. Wir standen kurz davor, uns unsere Träume zu erfüllen. Bald zehn Jahre waren vergangen
seit dem Praktikum im Schwesternheim in Südlondon. ZEHN JAHRE!
Die Liste der Eingriffe, die wir beherrschen mussten, war lang: vaginale Hysterektomie mit McCall-Naht, vaginale Hysterektomie mit Morcellement, vaginale Hysterektomie ohne Naht, IUP-Entfernung, Vulva-Biopsie und Laservaporation, Volon-A-Unterspritzung und Biopsie, Vulva-Abszess-Spaltung, Proktoskopien, Hysteroskopien, Urethrozystoskopien, Abrasiones, Geburten, Pelviskopien und so weiter und so fort.
Die Zeiten, in denen ich nur beobachtend mit dem Darm am Haken neben dem Chef stand, waren schon lange vorbei. Nun konnte und wollte ich es selbst tun!
»Karl!«, rief ich und packte einen vorbeieilenden Kollegen am Arm. »Hast du nicht noch einen schönen Mammaeingriff für mich? Ich muss meinen OP-Katalog voll kriegen!«
»Hast du eine Ahnung, wie viele Leute mich heute schon um eine Brustoperation angebettelt haben?«
»Karl. Bitte. Schau mal in meine schönen blauen Augen!«
Ich klapperte gekonnt mit den Wimpern, die wie immer perfekt getuscht waren. Selbst mit Zahnspange strahlte ich noch Würde aus.
»Na gut, weil du es bist, Konstanze!«, sagte Karl und gab sich geschlagen. »Du bekommst morgen früh um sieben den allerersten.«
»Mammaeingriff? Echt? Oh danke, Karl …!«
»Aber lass das bloß nicht die anderen wissen!«
»Nein, klar, großes Indianer-Ehrenwort!«
So schaffte ich eine Pflicht-OP nach der anderen, bis ich meinen Prüfungskatalog endlich voll hatte.
Einen Tag nach meinem schwer umkämpften Mammaeingriff, den ich dann schließlich mit Bravour absolvierte, musste ich zu meiner eigenen Kiefer-OP. In eine hochnoble Privatklinik, wo sich feine Damen die Lippen aufspritzen und die Gesichtshaut über die Ohren ziehen lassen. Mein Überbiss musste gerichtet werden.
Es war natürlich wieder mal Mitte August, und während andere Leute in den Ferien waren oder doch wenigstens im Freibad oder am Rothsee, ließ ich mir tapfer den Kiefer aufschneiden.
Wenn ich jetzt zurückblicke, kann ich mit Fug und Recht sagen, keinen einzigen Sommer erlebt zu haben, in dem ich einfach nur die Seele baumeln ließ. Ich hatte ja auch sonst keine Abwechslung im Leben.
Die Anästhesistin war wohl in Gedanken bereits mit ihrem Freund im Fränkischen Seenland oder auf Mallorca, jedenfalls spritzte sie mir ein Muskelrelaxans, das zu einer kompletten Erschlaffung meiner Muskulatur führte. Unter Erstickungsanfällen wurde ich
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