Himmel und Hölle
dass ich nicht nur gut drauf war, sondern auch etwas von Medizin verstand, zudem noch über ein modernes Ultraschallgerät verfügte, war mein Wartezimmer bereits jeden Morgen um acht berstend voll. Die Patientinnen waren zum Teil auch von Kollegen an mich überwiesen worden.
Da klingelte dann morgens schon mal das Telefon: »Du, Konstanze, schau dir mal die Frau Müller an, die hat ein ungutes Gefühl, aber ich kann nichts erkennen. Schau du noch mal genauer hin!«
Und dann saß da diese Frau, genauso hochschwanger wie ich. Ein Blick in ihre Augen genügte, und ich wusste sofort, dass da irgendwas nicht stimmte.
Die Frau spürte das selbst. Schwangere spüren oft, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Viel eher, als ein Arzt das erkennen kann.
»Na, dann lassen Sie uns mal nachsehen, Frau Müller«, munterte ich die Patientin auf. Ihr Bauch war halb so dick wie meiner. Ich fuhr mit dem Ultraschallkopf darüber und sah sie bereits auf dem Bildschirm,
die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte. Ganz klar und deutlich.
Ich brauchte ein paar Sekunden, um mir zu überlegen, wie ich es ihr sagen sollte. Dass ihr kleines Mädchen eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte haben würde und dass sie zur Sicherheit, um weitere Fehlbildungen und Chromosomen-Anomalien auszuschließen, zum Missbildungsultraschall und zur Fruchtwasseranalyse gehen sollte.
Sekunden, die ausreichten, dass Frau Müller stutzig wurde.
»Stimmt was nicht?«
»Schauen Sie, was ich hier sehe.«
Und dann erklärte ich Frau Müller am Monitor so sachlich wie möglich, was es mit ihrem Baby auf sich hatte.
»Sollte es sich nur um eine Spaltbildung handeln, würde man diese chirurgisch versorgen. Sollte jedoch außerdem eine geistige Behinderung vorliegen, könnten andere Schritte nötig werden. Eine Verdreifachung des Erbguts geschieht während der Zellteilung. Man spricht auch von Trisomie 21. Das überschüssige Chromosom trägt die Gene, die Menschen mit Down-Syndrom so unverwechselbar machen.«
»Ist das eine Krankheit?«, fragte Frau Müller mit zitternder Stimme. Bleich vor Schreck setzte sie sich auf.
Ich nahm ihre Hand. »Nein. Es kann allerdings nicht geheilt werden. Menschen mit Down-Syndrom sind Botschafter der Vielfalt des Lebens! Sie kommen zu
Eltern aller Altersstufen und aller sozialen Schichten, weltweit, in allen Kulturen!«
»Aber warum gerade ich? Ich habe doch schon zwei gesunde Kinder! Was haben mein Mann und ich denn falsch gemacht?« Sie fing an zu weinen. Ich ließ ihr Zeit, reichte ihr ein Taschentuch und wies Frau Thaler durch die Sprechanlage an, die nächste Patientin noch um etwas Geduld zu bitten. Dann setzte ich mich in Ruhe neben Frau Müller. »Das Down-Syndrom entsteht durch Zufall. Sie und Ihr Mann haben ganz bestimmt nichts falsch gemacht! Und es steht ja auch überhaupt noch nicht fest, ob Ihr Kind eine Trisomie 21 hat.«
Ich schrieb ihr eine Überweisung für eine noch speziellere Degum-II-Missbildungsuntersuchung, bei der die Bildschirmauflösung noch um einiges feiner ist. Das war ein Fall für meine geschätzte Kollegin Martha Kreidl, bei der ich sechs Monate hatte lernen dürfen.
Danach sprachen Frau Müller und ich lange über die Möglichkeit, ein Kind mit Down-Syndrom auf die Welt zu bringen und die Mutter eines behinderten Kindes zu sein.
»Ein solches Kind gibt der Familie auf seine ganz besondere Weise auch viel Kraft. Es sucht sich auch immer die Eltern aus, die einer solchen Aufgabe gewachsen sind. Die Familie erfährt einen ganz besonderen Zusammenhalt. Sie wächst an dieser Aufgabe.«
Sie wischte sich die Tränen ab und schniefte in das Taschentuch. »Wird mein Kind leiden müssen?«
»Jedenfalls nicht an seinem Syndrom! Das Down-Syndrom
selbst tut nicht weh. Allenfalls das Mitleid, die Zurückweisung und das Unverständnis der Umwelt!«
»Dann werde ich es ganz besonders lieben!« Frau Müller sah mich auf einmal ganz entschlossen an. Ihre noch feuchten Augen glänzten.
»Davon bin ich überzeugt, Frau Müller. Es wird ein ganz besonderes Kind sein. Geben Sie ihm liebevolle Aufnahme und Betreuung durch Ihre Familie, von Anfang an. Es gibt heutzutage so viele Möglichkeiten, die Talente Ihres Kindes zu fördern …«
»Talente? Das verstehe ich nicht. Ich dachte, diese Kinder sind einfach nur dumm?«
»Menschen mit Down-Syndrom haben - wie alle von uns - unterschiedliche Talente und Begabungen. Ihr intellektuelles Entwicklungspotenzial wird heute viel höher als noch vor etwa zwanzig Jahren eingeschätzt. Sie
Weitere Kostenlose Bücher