Himmel und Hölle
erreichen Lernziele in ihrem individuellen Entwicklungstempo.«
»Also kann mein Kind in die Schule?«
Zu meiner Freude und Erleichterung begann Frau Müller schon wieder zu lächeln, und ihr Blick wurde weich.
»Ja, natürlich! So gut wie alle Kinder mit Down-Syndrom besuchen heute den ganz normalen Kindergarten und werden in die Grundschule integriert!« Ich spürte, dass Frau Müller ihren Schock überwunden hatte und sich sogar auf ihre besondere Aufgabe zu freuen begann. Deshalb setzte ich ganz wagemutig noch einen drauf. »Sie werden staunen: In Südamerika
lebt und wirkt der erste Down-Syndrom-Akademiker! Er ist Lehrer!«
»Wie hat der das denn geschafft?«
Ich genoss Frau Müllers beeindrucktes Mienenspiel.
»Das größte Vergnügen im Leben besteht darin, das zu tun, was andere Leute Ihnen niemals zugetraut hätten! Das gilt auch für Sie, Frau Müller. Lassen Sie sich nicht von mitfühlenden Verwandten und Bekannten verunsichern! Sie werden sehen, mit welchen Fähigkeiten Ihr Kind Sie und den Rest der Welt überraschen wird. Stärken Sie sein Selbstbewusstsein, trauen Sie ihm was zu, trauen Sie SICH was zu! Das Kind hat sich SIE als Mutter ausgesucht!«
Die Frau ging nach über einer Stunde, halbwegs gefasst. Ich gab ihr meine Handynummer mit, wie ich das bei allen Patientinnen mit schwerwiegenden Problemen tue.
Meine Handynummer steht auch im Telefonbuch.
Wenn man eine gynäkologische Praxis hat, muss man sich auch seiner Verantwortung für die Patientinnen bewusst sein. Und die kann man nicht mit dem Kittel an den Nagel hängen, wenn man abends nach Hause geht.
Frau Müller hat mich bis heute nie über Handy angerufen. Inzwischen hat sie in Nürnberg ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt gebracht. Es ist genauso alt wie meine Zwillinge.
Nachdem meine Handynummer im Telefonbuch steht, erhalte ich tatsächlich zu den unmöglichsten Zeiten
Anrufe von meinen Patientinnen. Aber nie, wenn die Sache nicht wirklich wichtig ist. Die Patientinnen respektieren mein Privatleben. Sie rufen mich nicht an, wenn sie sich übergeben müssen oder wenn ihre Schwangerschaftsgymnastik-Kassette klemmt. Aber wenn es etwas wirklich Wichtiges zu besprechen gibt, lasse ich meine Kinder mit Nicole allein im Zimmer und suche mir eine ruhige Ecke. Dann widme ich mich ganz meiner Patientin. Dafür bin ich Frauenärztin.
Wenn eine Patientin früh genug erfährt, dass ihr Kind behindert ist, reden wir in aller Ruhe über die Möglichkeit einer Abtreibung. Meist spreche ich diese Alternative gleich nach dem Ultraschall an. Aber die Patientinnen brauchen eine Zeit lang, um den Sachverhalt richtig zu begreifen. Sie rufen mich dann auf dem Handy an, sobald sie die ganze Tragweite erkannt haben. Das kann Stunden dauern, manchmal auch Tage. Dann erkläre ich ihnen die Sache noch mal. Denn ich weiß: Erst jetzt nehmen sie meine Worte richtig auf.
Jede Patientin hat meiner Meinung nach das Recht, sich ihre Zukunft mit oder ohne behindertes Kind in Ruhe zu überlegen. Ich bin weder kategorisch für noch gegen eine Abtreibung, und ich verurteile jeden Menschen, der eine Frau verurteilt, die abtreibt. Kein Mensch steckt in der Haut einer solchen Frau, und kein Mensch sollte sich anmaßen, ihr Vorschriften zu machen.
Keine Frau geht hin und treibt einfach ab, weil ihr ein Kind nicht in den Kram passt.
Ich selbst würde so einen Eingriff allerdings nicht durchführen, und auch Professor Aigner hat solche Eingriffe nie selbst vorgenommen. Für so etwas gebe ich meinen Patientinnen die Adresse eines Spezialisten, allerdings nur, wenn die Schwangerschaft noch nicht weiter als bis zur Vollendung der zwölften Woche fortgeschritten ist. Früher wurden solche Adressen eines »Engelmachers« heimlich und unter der Hand und gesetzeswidrig weitergegeben. Auf Abtreibung standen hohe Strafen. Außerdem war sie lebensgefährlich, denn es wurde mit Stricknadeln und anderen abenteuerlichen Gerätschaften herumgepfuscht. Anschließend wurde die arme Frau sich selbst überlassen, wenn sie nicht vorher an den Folgen dieses stümperhaften Eingriffs verblutete.
Heute steht ein solcher Spezialist im Telefonbuch. Die Frau wird unter Narkose behandelt und nachher psychologisch betreut. Und das ist auch gut so.
Allerdings muss ich sagen, dass ich allen meinen Patientinnen, die ein gesundes Kind erwarten, rate, das Kind zu bekommen. Wenn das Kind gesund ist, gibt es immer einen Weg. Und so hochschwanger wie ich am Anfang meiner Praxiszeit war, war ich
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