Himmels-Taler
Hause zurückzukehren; die Zauberin wird nicht versuchen, dich zurückzuhalten.«
»Das klingt wie eine Falle!« schnaubte Electras Mutter.
Electra hatte zwar erst Zweifel gehegt, aber diese Bemerkung beseitigte sie endgültig. Von den Urteilen ihrer Mutter hatte sie noch nie allzuviel gehalten, außer wenn es um Männer ging. »Ich gehe!« sagte sie.
Ihre Mutter wollte schon protestieren, hielt aber doch inne. Wenn das ein ernstgemeintes Angebot war, war es gut. Sollte es eine Falle sein, war es schließlich Electra, die das Risiko einging. So oder so würde das Mädchen fort sein, und niemand würde der Mutter daraus einen Vorwurf machen können. »Wenn du darauf bestehst«, sagte sie schließlich. »Aber ich rate dir, es nicht zu tun.«
Electra begriff, daß ihre Mutter nicht ganz dumm war. Ihr Rat schützte sie vor Vorwürfen, sollte die Sache schiefgehen, aber gleichzeitig ermutigte er Electra dazu, ihn zu mißachten. Dennoch war sie von ihren neuen Aussichten wie betört und nur zu erpicht darauf, zu gehen. »Ich bin bereit!« verkündete sie.
»Hier entlang«, sagte der alte Mann. »Ich werde hineinsteigen, und du kannst mir folgen.« Er drückte den Webteppich an eine Wand, wo dieser durch Magie befestigt hängenblieb. Dann hob er einen Fuß und schob ihn in das Bild. Der Fuß verschwand, gefolgt von seinem Bein. Er zog den Kopf ein, krümmte die Schultern, legte die Arme an und schwang den Rest seines Körpers durch den Webteppich. Nun war nur noch sein zweites Bein in der Hütte; der Rest war im Bild. Schließlich hob er auch das noch hinein und blieb im Bild stehen. Er drehte sich um und winkte Electra.
Electra überlegte. Dann lief sie auf das Bild zu, schlug einen Purzelbaum und landete dabei auf dem Strand. Sie hatte es geschafft!
Sie drehte sich um und blickte zurück. Hinter ihr hing das Bild an einem Baumstamm. Nur daß es diesmal das Innere der Hütte zeigte, wo ihre Mutter ihr erstaunt nachblickte. Kein Zweifel, der Webteppich war ein Verbindungstor zwischen den beiden Orten.
»Die Zauberin erwartet dich«, sagte der alte Mann. »Hier entlang, bitte.«
Electra winkte ihrer Mutter zum Abschied, dann folgte sie dem Mann in ein etwas größeres Haus, das zwischen den Bäumen stand. Es war wunderschön mit Ried gedeckt, daneben wuchsen Brotfrucht- und Honigkuchenbäume, außerdem ein…
»Sind das etwa Schokoladen milchkräuter?« fragte sie, und das Wasser lief ihr im Mund zusammen.
»Die Zauberin dachte, daß du solche Kräuter vielleicht mögen würdest«, erwiderte der alte Mann.
Jetzt wußte Electra, daß sie die Zauberin gern haben würde!
Der alte Mann klopfte an die Tür. »Kommt herein, und willkommen!« rief eine fröhliche alte Stimme.
Er öffnete die Tür, und sie traten ein. Der Innenraum war groß und hell, an einer Wand hing ein riesiger Webteppich. Electra sah ihn an, wandte den Blick wieder ab – und sah erneut hin. Auf dem Teppich waren zahlreiche Bilder zu sehen, ganz nach Art eines Wandgemäldes, und jedes davon bewegte sich.
»Magst du meine Handarbeit, Kind?« fragte eine Stimme von der Seite.
Electra wandte den Kopf. Sie erblickte eine uralte kleine Frau mit faltiger Haut und wildem weißen Haar. »O ja, Zauberin!« rief sie.
»Nenn mich Tapis, denn wir werden Freundinnen sein«, sagte die Zauberin. »Komm, setz dich zu mir, dann unterhalten wir uns.« Sie zeigte auf einen Schemel.
Electra leistete ihrer Aufforderung Folge. »Danke, Tapis«, sagte sie schüchtern. »Bitte, kannst du mir vielleicht sagen, was du von mir willst?«
»Aber natürlich, Electra. Doch zuerst – möchtest du vielleicht irgendeine Erfrischung?«
»Ich hole sie!« rief Electra und sprang auf.
Die Zauberin lächelte. »Hast du geglaubt, daß ich dich als Dienstmädchen haben will?«
»Na ja, natürlich. Ich…«
»Das stimmt aber nicht, Kind. Du sollst meine Kollegin werden.« Die Zauberin schnippte mit den Fingern.
Da tauchte eine junge Frau auf. Sie schien ungefähr vierzehn zu sein und stand an der Schwelle zu einer Schönheit, die selbst ein junges Kind schon würdigen konnte. Electra spürte einen Stich der Eifersucht auf diese Schönheit, von der sie wußte, daß sie sie niemals selbst erreichen würde, so alt sie auch werden mochte. »Ihr habt geschnippt, Herrin?«
»Bring uns zwei Blütenkelche Schokoladenmilch, bitte, und nimm dir auch einen, Millie.«
Millie verschwand wortlos. Im nächsten Augenblick erschien sie bereits wieder mit drei Kelchen Milchkraut. Einen
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