Himmelsdiebe
sentimental. Schließlich war es Ihre Idee.«
»Nur weil ich dachte, sie würden sowieso ihr Haus verlieren. Pepe ist an allem schuld. Er hat Harry als Erster verpfiffen.«
»Ja, die Liebe. Wo sie hinfällt, wächst kein Gras mehr. Und da haben Sie eben ein bisschen nachgeholfen. Bevor ein anderer so schlau war wie Sie.«
»Wollen Sie mir ein schlechtes Gewissen machen?«
»Nicht im Traum, Madame Lulu. Sie haben nur getan, was jeder an Ihrer Stelle getan hätte. C’est la guerre! « Der Notar öffnete seine Brieftasche und holte ein Bündel Scheine hervor. »Hier! Tausend Franc! Auf den Tisch des Hauses! Sind wir damit quitt?«
Als Harry die Gier sah, mit der Lulu nach dem Geld schielte, trat er vom Fenster zurück. Er hatte sich schon oft in Menschen geirrt, doch das hier übertraf alles, was ihm je untergekommen war! Die gutherzige Lulu und ihr geleckter Notar hatten alles getan, um ihn und Laura loszuwerden, damit sie sich ihr Haus unter den Nagel reißen konnten. Harry kam sich vor wie ein Bär, den man erlegt hatte und der nun zusah, wie man sein Fell zerteilte.
Nur mit Gewalt gelang es ihm, ein Niesen zu unterdrücken. Wie hatte er so dämlich sein können, solchen Menschen zu vertrauen? Am liebsten wäre er in die Kneipe gestürmt, um die beiden zur Rede zu stellen. Aber das wäre das Dümmste gewesen, was er tun konnte. Maître Simon würde keine Sekunde zögern, ihn ans Messer zu liefern, er hatte es ja selbst gesagt. Zähneknirschend fügte Harry sich in sein Schicksal. Bis zu seiner Flucht musste er so tun, als sei nichts geschehen. Er war auf die Hilfe der beiden angewiesen.
Vor Wut trat er gegen den Baum, an dem Pepe sein Wasser abgeschlagen hatte. Der Schmerz schoss ihm direkt ins Gehirn. Glückwunsc h – jetzt hatte er sich auch noch den Fuß verstaucht!
Leise fluchend wandte er sich ab. Als er über den Platz humpelte, sah er Maître Simons Cabriolet. Frisch gewaschen und poliert schimmerte es im Mondschein.
Der Anblick brachte Harry auf eine Idee. War Rache wirklich süß? Vielleicht. Auf jeden Fall würde sie nützlich sein.
Kaum war ihm der Gedanke gekommen, ließ der Schmerz auch schon nach.
Während er zum Auto schlich, schaute er ein paar Mal über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtete. Erst als er sicher sein konnte, dass die Luft rein war, beugte er sich über die Wagentür und zog den Zündschlüssel samt Schlüsselbund ab.
22
»Würden Sie mir die Puppe schenken, wenn ich Sie darum bitte?«, fragte Dr. Retroverria.
»Nein«, sagte Laura. »Das kann ich nicht.«
»Warum nicht? Weil Sie immer noch glauben, dass Sie schwanger sind?«
Mit beiden Händen umklammerte Laura die Puppe in ihrem Schoß, als müsse sie fürchten, dass er sie ihr entriss. Dabei wusste sie, dass er das niemals tun würde. Dr. Retroverria war ihr Arzt, das hatte sie inzwischen begriffen, und er tat alles, um sie aus dem Haus der Angst zu befreien. Aber es gelang ihm immer nur für ein paar Stunden. Für die paar Stunden am Tag, die sie miteinander redeten.
»Warum schütteln Sie den Kopf?«, wollte er wissen. »Weil Sie mir die Puppe nicht geben möchten? Oder weil Sie nicht schwanger sind?«
»Sie brauchen gar nicht so scheinheilig zu fragen«, erwiderte sie. »Ich weiß selber, dass ich nicht schwanger bin.« Sie wunderte sich, wie leicht ihr dieser Satz, gegen den sie sich so lange gewehrt hatte, plötzlich über die Lippen gekommen war. Aber sie konnte die Wahrheit nicht länger leugnen.
Dr. Retroverria hob überrascht die Brauen. »So? Sind Sie sicher? Wann haben Sie das herausgefunden?«
»Schon letzte Woche. Als ich meine Tage kriegte.«
»Nun, das kann passieren, auch bei schwangeren Frauen. Das ist zwar selten, aber nicht unmöglich. Scheinblutungen.«
»Herrgott, ich weiß , dass ich kein Kind bekomme! Der Klumpen in meinem Bauch hat sich kein einziges Mal mehr bewegt, seit ich hier bin. Sie haben ja selbst gesagt, was das is t – eine Halluzination! Außerdem ist es über ein Jahr her, dass ich mit Harry geschlafen habe. Wäre ich damals schwanger geworden, wäre das Kind längst auf der Welt.«
Laura schaute auf die Seerosen. Wann immer das Wetter es zuließ, führte Dr. Retroverria sie hierher an den Teich, um mit ihr auf der Bank zu sitzen und zu reden. Und nie wurde er müde, ihr seine Fragen zu stellen, eine nach der anderen, Tausende und Abertausende von Fragen, mit denen er sie zurück in jene Welt führte, die er die Wirklichkeit nannt e – Frage
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