Himmelsdiebe
Bergsteiger fühlen, der sich wohl gerüstet auf eine Expedition begibt.
»Darf ich die Schuhe behalten?«, fragte sie.
Dr. Retroverria strahlte über das ganze Gesicht. »Ich hatte gehofft, dass Sie mich das fragen. Die Schuhe sind nämlich mein Abschiedsgeschenk.«
»Oh, gehen Sie in Pension?«
»Nein«, sagte er. »Bis dahin muss ich noch ein paar Jahre arbeiten.« Mit ernstem Gesicht nahm er ihre Hand und schaute sie an. »Was würden Sie tun, Miss Paddington, wenn Dr. Gonzáles Sie aus der Klinik entlässt?«
Mit dieser Frage hatte Laura nicht gerechnet. Sie erfüllte sie mit Hoffen und Bangen zugleich. Aber die Verunsicherung dauerte nur einen Augenblick.
»Ich denke«, sagte sie, »ich würde mit Geraldine nach Lissabon fahren.«
»Und dort?«, wollte Dr. Retroverria wissen. »Was würden Sie in Lissabon tun? Harry suchen?«
Angespannt blickte er ihr in die Augen. Laura erwiderte seinen Blick. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Nein«, sagte sie, »ich würde zum Hafen gehen und eine Schiffskarte kaufen. Nach Amerika. Zumindest würde ich das versuchen.«
Dr. Retroverria nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie auf die Stirn.
»Ich werde mit Dr. Gonzáles sprechen. Er soll die Papiere vorbereiten.«
23
Es war eine kalte, sternklare Nacht. Wütend fegte der Mistral durch den nächtlichen Weinberg und rüttelte an den Reben, während Harry sich im Schutz der Dunkelheit dem Zauberhaus näherte. Ein Fensterladen schlug im Wind, der um die Ecken heulte und den Widerhall seiner Schritte davontrug. Irgendwo schrie ein Käuzchen.
Im Schatten der Hausgeister, die schlafend in ihren Mauernischen hockten, huschte Harry auf den Hof und tauchte seine Hände in die Regentonne, um sich die Farbreste abzuwaschen, die an seinen Fingern klebten. Er hatte gerade das Nummernschild von Maître Simons Cabriolet mit neuen Buchstaben und Ziffern übermalt. Jetzt musste er nur noch in sein Haus einbrechen, um seine eigenen Bilder zu stehlen, bevor er sich auf die Reise machen konnte. Er hatte den Tank geprüft, der Sprit würde reichen, und Lulu hatte ihn sogar mit Proviant versorgt. Er hatte ihr erzählt, dass er versuchen wollte, sich zu Fuß bis Marseille durchzuschlagen. Sie hatte keine Anstalten gemacht, ihn zurückzuhalten.
Im Mondschein sortierte Harry den Schlüsselbund, den er dem Notar entwendet hatte. Wie konnte ein Jurist so leichtsinnig sein, sämtliche Schlüssel im offenen Auto zurückzulassen? Harry hoffte nur, dass Maître Simon das Türschloss nach dem Schlüsselklau nicht abermals hatte auswechseln lassen. Zwar gab es an der Rückseite des Hauses einen Schlitz in der Mauer, durch den man in den Keller eindringen konnte, aber der Schlitz war so eng, dass nur Laura hindurchgepasst hatte.
Leise, um keinen Lärm zu machen, steckte Harry den Kellerschlüssel ins Schloss. Erst jetzt merkte er, dass seine Hand zitterte. War das ein Abenteuer, von dem er dereinst seinen Enkelkindern erzählen würde?
Gott sei Dank, der Schlüssel passte. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter. Knarrend öffnete sich die Tür, und er schlüpfte hinein. In dem Gewölbe, in dem die Bilder lagerten, war es so finster, dass er kaum die Hand vor Augen sah. Um etwas zu erkennen, zündete er ein Streichholz an. Doch im winzigen Schein der Flamme entdeckte er kein einziges Gemälde. Nur altes Gerümpel und Brennholz für den Kamin, das sich bis zur Decke stapelte.
Harry stieß einen leisen Fluch aus. Wo waren die Bilder geblieben? Hatte Maître Simon sie weggeschmissen? Oder waren sie in der Wohnung?
Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Bei dem Gedanken wurde Harry übel vor Angst. Wenn Maître Simon ihn erwischte, würde er keine Sekunde zögern, ihn an die Gestapo zu verpfeifen.
Sollte er dafür sein Leben riskieren? Die paar Bilder, die er für seine Ausreise brauchte, konnte er schließlich auch noch in Marseille malen.
Harry zögerte einen Moment, dann gab er sich einen Ruck. Nein, er musste es tun, er hatte keine Wahl! Die Bilder für Debbie Jacobs waren ja gar nicht der Grund, weshalb er zurückgekehrt war. Alle Bilder, die er je gemalt hatte, konnte er ersetze n – nur eines nicht. Dieses Bild war mehr als ein Bild, es entschied über sein Lebe n – über alles, woran er glaubte. Er musste es retten, um es mit Laura zu Ende zu malen. Sonst war sein Leben für die Katz.
Mit klopfendem Herzen zog er sich die Schuhe aus. Während er auf Strümpfen die Treppe hinauf zur Wohnung schlich, mischte
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