Himmelsdiebe
niemand berühre n … Die Erinnerung überkam sie mit solcher Macht, dass sie plötzlich weinte. Dr. Retroverria reichte ihr sein Taschentuch.
»Können Sie sich vorstellen«, fragte er leise, »ohne Harry zu leben?«
Statt zu antworten, schluchzte sie in das Taschentuch. »Und wenn er nach Sainte-Odile zurückgekehrt ist, um unser Bild zu retten?«, fragte sie schließlich. »Das wäre doch der Beweis, dass er mich liebt.«
»Mag sein«, erwiderte der Arzt. »Aber solange Sie nicht von ihm loskommen, werden Sie nie wirklich frei sein. Harry wird nicht aufhören, Sie als seine Muse zu betrachten. Er braucht Sie, viel mehr als Sie ihn. Sie sind sein Mirakelmädchen. Ohne Sie wäre er aufgeschmissen.«
»Das ist doch lächerlich. Harry hat noch nie einen Menschen gebraucht.«
»Ich fürchte, da irren Sie sich«, beharrte Dr. Retroverria. »Harry braucht Sie, weil Sie ihn inspirieren. Er ist auf Ihre Einfälle angewiesen. Und wenn mich nicht alles täuscht, ist ihm seine Kunst wichtiger als alles andere, auch wichtiger al s …«
»Ja und?«, fiel Laura ihm ins Wort, bevor der Arzt den Satz zu Ende sprechen konnte. »So hatten wir es ausgemacht! Als Bedingung dafür, dass er mich aus England mitnimmt.«
»Aber Ihre Inspirationen gehören Ihnen! Sie sind Ihr Eigentum! Ihr wertvollster Besitz! Machen Sie etwas Eigenes daraus!« Dr. Retroverria nahm ihr das Taschentuch aus der Hand und trocknete ihr das Gesicht. »Sie haben keinen Grund zu weinen«, sagte er. »In Ihrem Bild haben Sie sich ja schon längst von Harry getrennt. Weil Sie ihn erkannt haben. In seiner Kälte. In seiner Unnahbarkeit. In seiner Ichbezogenheit. Tun Sie es auch im wirklichen Leben! Hören Sie auf, seine Muse zu sein!«
»Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden!«, erwiderte Laura. »Alles, was ich kann, habe ich von Harry gelernt. Sehen! Malen! Leben!«
»Vielleicht. Aber eins hat er Ihnen nicht beigebracht. Das Wichtigste von allem. Weil Sie es nur sich selber beibringen können.«
»Und was soll das sein?«
»Ohne ihn zu leben. Und zu malen. Und zu sehen.«
Laura schüttelte den Kopf. »Das werde ich niemals schaffen.«
Dr. Retroverria blickte sie streng an. »Doch, das werden Sie. Sie müssen es nur lernen. So wie Sie gelernt haben, ohne Ihre Eltern auszukommen. Und ich glaube, Sie haben damit sogar schon angefangen.«
Wieder drückte er ihren Arm. Obwohl sie die Kraft spürte, die von ihm ausging, zog sie ihren Arm zurück und wandte sich ab.
»Ich habe Sie gestern im Park gesehen«, sagte er. »Mit einem Mann.«
Laura zuckte zusammen. »Was haben Sie gesehen?«
»Sie und den Mann. Sie haben sein Gesicht gestreichelt. Und die Puppe lag auf der Bank.«
»Was zum Teufel geht Sie das an?« Laura riss ihm das Taschentuch aus der Hand. Fast war sie froh, dass er ihr einen Grund gab, wütend zu werden. Wut war immer noch besser als Trauer.
Dr. Retroverria lächelte sie an. »Sie müssen deshalb kein schlechtes Gewissen haben. Ich habe mich darüber gefreut. Fast genauso wie Pepe.«
»Wenn Sie schon rumspionieren, dann schauen Sie wenigstens richtig hin!«, rief sie. »Das war nicht Pepe! Das war Jesús! Pepe ist ein Briefträger aus meinem Dorf.«
Dr. Retroverrias Lächeln wurde noch breiter. »Sie haben vollkommen recht. Das geht mich nichts an.« Während sie sich die Nase putzte, griff er nach einer Tasche neben der Bank. »Ich habe ein Geschenk für Sie.« Er holte ein Paar Schuhe aus der Tasche und reichte sie ihr. »Würden Sie mir den Gefallen tun, sie anzuziehen?«
»Wozu soll das gut sein?«, fragte Laura.
»Nur ein kleines Experiment. Ich hoffe, es ist Ihre Größe.«
Irritiert blickte sie auf die Schuhe, zwei feste, braune Wanderstiefel mit dicker Sohle und ledernen Schnürriemen.
Dr. Retroverria nickte ihr zu. »Bitte.«
»Na gut! Auch wenn ich nicht weiß, warum.« Sie streifte ihre Sandalen von den Füßen und zog die Wanderstiefel an.
»Und?«, fragte er, nachdem sie ein paar Schritte damit gemacht hatte.
»Was wollen Sie hören?«, erwiderte sie. »Das Einzige, was mir auffällt, ist, dass sie furchtbar schwer sind.«
»Ja, zum Hüpfen und Tanzen sind sie kaum geeignet«, sagte Dr. Retroverria. »Aber wer nach den Sternen greift, sollte mit beiden Füßen möglichst fest auf dem Boden stehen. Ist es nicht ein gutes Gefühl?«
Sie ging einmal zum Teich und wieder zurück. Auch wenn sie es sich nur widerwillig eingestand: Dr. Retroverria hatte recht. Es war ein gutes Gefühl. So musste sich ein
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