Himmelsdiebe
sich ein Anflug von Stolz in seine Angst. Von diesem Abenteuer würde er seinen Enkelkindern allerdings erzählen! Das erste und einzige Abenteuer in seinem Leben, bei dem er Kopf und Kragen riskierte.
War er vielleicht sogar ein Held?
In der Wohnung war alles still, nur ein regelmäßiges Schnarchen, das aus dem Obergeschoss drang, war zu hören. Harry schnupperte in der Luft: Das Treppenhaus roch nach Farbe. In dem fahlen Licht, das durchs Fenster fiel, erkannte er, dass Maître Simon das Innere des Hauses komplett renoviert hatte. Die Wände waren frisch verputzt und gestrichen, die Fußböden repariert und mit Teppichen belegt. In der Hoffnung, dass das Bild, nach dem er suchte, irgendwo aufgehängt war, öffnete er die Türen zur Küche und zum Wohnzimmer. Aber an den Wänden hingen überall nur irgendwelche Ölschinken mit Ansichten aus Avignon.
Es blieb nur eine Möglichkeit: das Atelier!
Auf Zehenspitzen setzte Harry seinen Weg fort. Mit jeder Stufe wurden die Schnarchgeräusche lauter. Das Schlafzimmer befand sich am Treppenabsatz im Obergeschoss. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Harry spähte hinein. Auf dem Rücken schlummerte Maître Simon selig im Mondschein, das Gesicht mit einer goldenen Schlafmaske bedeckt. An seiner Seite lag Mademoiselle Lautrec, die Schauspieleri n – splitternackt. Sie war so schön, dass Harry nicht anders konnte, als hinzusehen. Die Decke war ihr von den Schultern gerutscht und drapierte ihren schlanken Leib wie ein Volant.
Warum verschwendete eine solche Frau sich nur an einen solchen Mann?
Mit lautem Knall schlug der Fensterladen im Wind. Harry zuckte zurück in den Flur. Mit klopfendem Herzen hielt er die Luft an. Doch dem Himmel sei Dan k – nichts rührte sich. Ein Aussetzer, und Maître Simon schnarchte ungerührt weiter. Im Rückwärtsgang, ohne den Notar aus den Augen zu lassen, tastete Harry sich zum Atelier und öffnete die Tür.
Als er sich umdrehte, hätte er fast einen Freudenjauchzer ausgestoßen. Die Himmelsbeute bedeckte die ganze Wand. Alle Augenblicke, die er mit Laura erlebt hatte, waren plötzlich wieder da. Dada und die Windsbrau t … Der Vogelobere und das Wildpfer d … Harry und Laur a … Nur einen Teil der Collage kannte er nicht. Laura musste das Bild gemalt haben, nachdem er verhaftet worden war. Es zeigte ihn selbst, inmitten einer Schneelandschaft. Er sah darauf aus wie Väterchen Frost.
Harry kletterte auf einen Stuhl, um die riesige Leinwand von der Wand zu nehmen. Auf dem Boden legte er sie zusammen und faltete sie zu einem Paket. Als er sie über die Schulter warf, machte er eine freudige Entdeckung: ein Regal, das bis unter die Decke gefüllt war mit den Flaschen von seinem und Lauras Wein.
Waren die Götter ihm endlich wieder gnädig?
Harry griff in das Regal, um eine Flasche mitzunehmen. Mit diesem Wein würden Laura und er in Lissabon auf ihr Wiedersehen anstoßen.
Plötzlich hörte er eine Stimme in seinem Rücken.
»Was tun Sie da?«
Die Flasche in der Hand, drehte Harry sich um.
In der Tür stand Mademoiselle Lautrec. Sie trug nur ein Negligé aus durchsichtiger Seide.
24
Dunkle Nacht umfing den Hafen von Lissabon, als Laura die Mole erreichte. Die Lichter der Stadt brachen sich in den Fluten des Tejo wie Funken der Hoffnung in der Finsternis. Eine unheimliche Stille beherrschte den Ort. Während grell beleuchtete Ozeanriesen zum Auslaufen abgefertigt wurden, hörte man das Plätschern der Wellen, die gegen die gewaltigen Schiffsrümpfe schlugen. Scharen von Menschen hasteten über den Kai, Flüchtlinge und Emigranten, die in lautloser Verzweiflung versuchten, noch eine Passage über das Meer zu ergattern, nach Amerika oder Australien, bevor das Schiff ihrer Sehnsucht den Hafen verließ. Hier, am äußersten Ende des Kontinents, strandeten all die Männer und Frauen, die auf der Flucht vor den Nazis ihre Heimat aufgegeben hatten, namenlose Existenzen aus allen Ländern Europas, für die eine Bordkarte auf einem der Dampfer das ewige Leben bedeutete. Der Hafen von Lissabon war ihre letzte Zuflucht und jedes Schiff eine Arche.
Wo war das Büro der Cunard Reederei?
Lauras Füße schwitzten fürchterlich in ihren Wanderstiefeln. Dr. Retroverria hatte ihr geraten, die schweren Schuhe zu tragen, solange sie in Lissabon sei, damit sie nicht auf dumme Gedanken käme. Nur mit Mühe erinnerte sie sich an den Weg, den der Hotelportier ihr beschrieben hatte. Doch als sie das Büro endlich gefunden hatte, bekam sie dieselbe
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