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Himmelsdiebe

Himmelsdiebe

Titel: Himmelsdiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Kuvert war in einem französischen Ort namens Lantosque abgestempelt, Alpes maritimes , und hatte über sechs Wochen für die Reise gebraucht. Voller Sorge drehte Bobby den Umschlag in der Hand. Aus irgendeinem Grund, den er sich selbst nicht erklären konnte, hatte er das Gefühl, dass dieser Brief für lange Zeit womöglich der letzte war, den seine Mutter ihm schickt e – wenn nicht gar für immer.
    »Du wolltest mich sprechen?« Wie aus dem Nichts stand sein Vater auf einmal vor ihm. »In welcher Sprache? Deutsch, Französisch oder Englisch?«
    »Mathilde hat geschrieben«, erwiderte Bobby auf Deutsch und erhob sich, um ihn zu begrüßen.
    »That’s wonderful!« , rief Harry.
    »Ich wollte, du hättest recht«, sagte Bobby und reichte ihm den Brief. »Da! Lies selbst.«
    Harry nahm den Brief und setzte sich. Nachdem er den Bogen auseinandergefaltet hatte, holte er das diamantbesetzte Lorgnon hervor, ohne das er nicht mehr aus dem Haus ging, und hielt es sich mit der Vornehmheit eines französischen Aristokraten vor die Augen. Unter teils bewundernden, teils amüsierten Blicken der Museumsbesucher überflog er die Zeilen. Als er zu Ende gelesen hatte, ließ er das Lorgnon in der Brusttasche seines Anzugs verschwinden. Offenbar spürte er selbst, wie unpassend eine solche Lesehilfe in diesem Moment war.
    »Nein, das sind keine guten Nachrichten«, sagte er ernst.
    »Mathilde schafft es nicht raus aus Frankreich. Die Schlinge zieht sich immer mehr zu.«
    »Wenigstens ist sie nicht alleine und hat ein gutes Versteck.«
    »Fragt sich nur, wie lange.«
    »Ich weiß, was du empfindest«, sagte Harry. »Und glaub mir, ich teile deine Gefühle. Aber schwarzsehen hilft nicht weiter. Hör doch, was sie selber schreibt.« Mit langem Arm, ohne das Lorgnon zu benutzen, las er vor: »Die Bauern hier verehren uns so sehr, dass sie uns auch vor den Deutschen verstecken würden, sollten die Nazis wirklich bis Vichy kommen und das Ruder übernehmen. Der Bürgermeister persönlich hat mir vor ein paar Tagen gesagt: ›Bleiben Sie hier bei uns im Dorf. Lassen Sie sich nirgendwo sonst blicken. Dann wird Ihnen nichts passieren.‹ « Mit einem Lächeln, das wohl aufmunternd wirken sollte, ließ Harry den Brief sinken. »Mach dir keine Sorgen, mein Junge. Deine Mutter lässt sich nicht unterkriegen. Wie ich sie kenne, hat sie dem Bürgermeister wahrscheinlich schon eine Torte gebacken.«
    »Was redest du da von Torte?«, erwiderte Bobby. »Mathilde ist Jüdin! Und wenn die Deutschen sie erwische n …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Ach Papa, warum habt ihr in Marseille nicht wieder geheiratet?«
    »Das habe ich dir doch erzählt. Deine Mutter wollte nicht.«
    »Ich weiß. Aber trotzdem. Dan n … dann wäre sie längst hier. Genauso wie du.«
    Er schaute seinen Vater an, doch der wich seinem Blick aus. Umständlich zündete er sich eine Zigarette an und tat so, als würde er nochmals den Brief lesen. Aber Bobby kannte ihn zu gut, um darauf hereinzufallen. Harry hasste solche Situatione n – wahrscheinlich dachte er gerade darüber nach, wie er sich möglichst rasch aus dem Staub machen konnt e … Während er Rauchwölkchen gegen die Decke blies und sich dabei verstohlen in der Cafeteria umsah, als würde er noch jemanden erwarten, fiel Bobby ihr erstes Wiedersehen in New York ein, lange bevor das Flugzeug seines Vaters in La Guardia gelandet war. Es war an einem tristen Novembersonntag gewesen, Bobby hatte damals noch in einer Druckerei gearbeitet. Er hatte fürchterliches Heimweh gehabt, und um es zu bekämpfen, war er ins Museum gegangen. Laut einem Artikel der New York Times hingen dort ein paar Bilder seines Vaters, zusammen mit Werken befreundeter Künstler, auf deren Schoß Bobby als Kind schon gesessen hatte. Gleich in der Eingangshalle hatte er die Bilder entdeckt. Bei ihrem Anblick war ihm zumute gewesen, als betrete er mitten in der Fremde ein Stück Heimat. Doch plötzlich, vor einer Collage von Harry, war ihm ein Detail ins Auge gesprunge n – ein kleiner unscheinbarer Ausriss aus einer Tapete. Sein Herz hatte wie wild gehämmert. Das Stück Papier stammte aus seinem eigenen Kinderzimmer: Der handgroße Flecken, wo die Tapete ausgerissen war, hatte zu den Albträumen seiner Kindheit gehört. Einen ganzen Tag lang hatte er geschrien und geweint, weil ihm niemand hatte erklären können, was mit der Wand passiert war. Jetzt, nach zwanzig Jahren, hatte er das auf so geheimnisvolle Weise verschwundene Stück Tapete

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