Himmelsdiebe
Brille und mit dem er unglaublich vornehm wirkte. Und in allen großen Städten, die sie auf ihrer Reise passierten, schauten sie sich Gebäude an, darunter richtige Schlösser und Paläste, auf der Suche nach einer geeigneten Immobilie für Debbies Museum, durch das der Künstler Harry Winter endlich zu jener Geltung gelangen sollte, die ihm schon lange gebührte: als der größte und bedeutendste Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts.
»And I think to myself: what a wonderful worl d … «
Harry schaltete das Radio aus. Die Musik ging ihm plötzlich auf die Nerven.
»Singe ich sooo schief?« Debbie blickte mit gespielter Entrüstung zu ihm herüber.
»Nein, nein, ich habe nur ein bisschen Kopfschmerzen.«
Das war zwar gelogen, doch eine bessere Ausrede fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Nicht mal in dieser großartigen Landschaft war er vor seinen eigenen Gefühlen sicher. Wie aus dem Nichts waren die Zweifel gekommen, und der Song, der ihm vor fünf Minuten noch so vollkommen aus dem Herzen gesprochen hatte, als wäre er eigens für ihn komponiert, war ihm auf einmal unerträglich geworden. Und wenn Debbie ihm ihr ganzes Land zu Füßen legt e – konnte er seine Windsbraut darüber jemals vergessen? Obwohl Laura ihm versprochen hatte, seine Bilder aus Europa mitzubringen, war sie immer noch nicht da. Pompon behauptete, es könne vielleicht noch Monate dauern, bis sie nach New York käme. Wenn überhaupt.
»Verfluchte Scheiße!«
Debbie bremste so scharf ab, dass Harry sich am Türgriff festhalten musste, um nicht gegen die Windschutzscheibe zu knallen. Als er den Kopf hob und über die Motorhaube des Cadillacs blickte, sah er, wovor Debbie ausgewichen war. Eine Schlange, so dick wie ein Männerarm und fast zwei Meter lang, wand sich über die Bundesstraße.
»Was ist das denn?«, fragte Harry.
»Eine Klapperschlange«, sagte Debbie. »Die gibt es hier überall.«
»Das muss ich mir anschauen.« Er öffnete den Wagenschlag und stieg aus.
»Warte, ich komme mit«, rief sie. »Aber pass bitte auf! Die Viecher sind giftig!«
Vorsichtig folgte Harry der Schlange bis an den Rand des Canyons. Dort richtete sie sich für einen Moment drohend auf, dann verschwand sie mit zuckender Schwanzrassel im Gebüsch. Schade, Harry hatte kaum einen Blick auf sie erhascht. Enttäuscht trat er auf einen Felsvorsprung, der aus dem Gestrüpp ragte. Vielleicht würde er wenigstens noch das Klappern hören.
»Sollen wir hier ein Picknick machen?«, fragte Debbie und öffnete den Kofferraum ihres Wagens. »In der Eisbox warten Krabben und Champagner!«
Harry antwortete nicht. Kaum war er auf den Felsvorsprung getreten, hatte er alles um sich herum vergessen. Die Aussicht verschlug ihm die Sprache: ein Anblick, den kein Museum der Welt ihm jemals bieten konnte. Dabei schien ihm jedes Detail auf geheimnisvolle Weise vertraut, als hätte er schon viele, viele Male hier auf diesem Felsvorsprung gestanden und die Aussicht in sich aufgesogen. Alles erkannte er wieder: Die grüne Gipfellinie des Berges, die unterbrochen wurde durch ein Band hellroten Stein s … Den Felsen, den die Sonne aus purem Magentarot in die Erde gebrannt zu haben schie n … Die gekrümmte Gipfelhaube, die sich über den verschiedenen Gesteinsschichten erho b …
»Was hast du?«, fragte Debbie besorgt. »Du bist ja ganz bleich!«
»Das ist meine Landschaft«, flüsterte Harry. »Ich habe sie schon so oft gemalt. Jetz t … jetzt sehe ich sie zum ersten Mal.«
Ungläubig starrte er auf die Felswand, die sich wie ein Monument der Ewigkeit auf der gegenüberliegenden Seite des Canyons erhob. Es waren dieselben Farben, dieselben Formen, die er immer wieder auf die Leinwand gebannt hatte, in Sainte-Odile und in Paris und sogar schon in Deutschlan d – ohne je zu ahnen, dass es eine solche Landschaft außerhalb seiner Seele tatsächlich irgendwo gab.
»Ich glaube fast, da schickt uns jemand ein Zeichen«, sagte Debbie.
Harry drehte sich zu ihr herum. »Was meinst du damit?«, fragte er irritiert.
»Ist das so schwer zu erraten?« Sie trat auf ihn zu und nahm seine Hand. »Was denkst du, Harry, wäre es nicht das Praktischste, wir zwei würden heiraten?«
6
Debbie hatte eigentlich allen Grund, mit sich zufrieden zu sein, als sie in ihrem Chanel-Negligé vor die drei mal fünf Meter große Spiegelwand ihres ansonsten ganz in Marmor gehaltenen Badezimmers trat, um ihr Gesicht für die Nacht zu reinigen. Nur zwei Tage nachdem sie mit Harry von ihrer
Weitere Kostenlose Bücher