Himmelsdiebe
Hirngiebel im Lager von Les Milles erinnerte, schielte voller Neid zu ihm herüber.
»Übrigens«, gurrte Ginger, »ich hab heute dein Bild in der Zeitung gesehen.«
»Du liest die Washington Post ?«, staunte Harry.
»Nicht direkt. Im Drugstore wickeln sie darin immer die Kondome ein.«
»Ach so. Un d – wie fandest du mich?«
»Den Artikel habe ich nicht gelese n – er war so schrecklich lang. Aber auf dem Foto hast du wahnsinnig süß ausgesehen!«
Sie beugte sich vor, um ihn zu küssen. Harry sah ihre nackten Brüste unter dem Kimono: zwei weiße Äpfelchen mit rosa Blüten, die in ihrer Verhüllung noch appetitlicher wirkten als auf der Bühne. Sogar Dada nahm sie endlich zur Kenntnis.
»Ich kann gar nicht erwarten, dass du mich endlich malst«, hauchte sie.
»Mein Pinsel ist schon bereit«, raunte Harry.
»Einmal muss ich noch auf die Bühne, dann hab ich frei.«
»Dann wird es ja höchste Zeit, die Farben anzurühren.«
Dada bekundete inzwischen spürbares Interesse. Würde er heute endlich herausfinden, über welche alchemistischen Künste Ginger verfügte?
Harry wollte sie gerade küssen, da sah er wieder den Mann am Nebentisch. Sie denken an Ihre Frau, nicht wahr? , hatte Professor Hirngiebel ihn auf ihrer Irrfahrt von Les Milles nach Bayonne gefragt, als sie durch die Waggontür die Flüchtlinge gesehen hatten, die draußen auf einem Feld an ihnen vorübergezogen waren. Ihre Liebe spürt man in jedem Pinselstric h … Harry hatte damals gestaunt, dass ausgerechnet ein Theologe ihn so gut verstand.
»Was hast du, mein Süßer? Ist dir nicht gut?«
Ginger zog eine Schnute, als hätte jemand sie gefragt, wie viel eins und eins sind. Dadas Interesse schwand schlagartig dahin. Harry wollte einen Schluck von seinem Whiskey trinken, um sich wieder in Stimmung zu bringen. Doch der Rand seines Glases war so sehr mit Lippenstift verschmiert, dass es ihn plötzlich ekelte.
»Tut mir leid, honey «, sagte er. »Irgendwie klappt das nicht mit uns beiden.«
Bevor Ginger etwas begreifen konnte, sprang er auf, warf ein paar Dollar auf den Tisch und stolperte hinaus.
3
»Sehnsuchtsbrücke« nannten die New Yorker die Brooklyn Bridge, jene gewaltige Hängebrücke, die aus den Arbeiter-Vororten im Süden der Stadt nach Manhattan führte, mitten hinein in den unwiderstehlich strahlenden Traum von einem besseren Leben. Für Harry jedoch war die Brücke in dieser Nacht ein schwarzer, gigantischer Albtraum aus Stahl, die Endstation all seiner Hoffnung. Wie von Dämonen gehetzt, war er aus der Banana-Bar geflohen und stundenlang durch die Straßenschluchten dieser fremden, abweisenden Stadt geirrt. Ohne zu wissen, wie er hier gelandet war, starrte er nun in die Fluten des East River, inmitten einer unwirklichen Wirklichkeit, deren Zeit sich mit keiner Uhr messen ließ. In wenigen Tagen würde Debbie ihr Museum eröffnen. Was dann? Würde er Laura noch einmal sehen, wenn ihr gemeinsames Bild dort hing? Dieses unfertige, unvollkommene, nur durch das Leben zu beendende Bild? Dieser Flickenteppich ihrer gelebten und ungelebten Augenblicke? Harry wusste es nicht. Er wusste nicht einmal, ob Laura zur Vernissage kommen würde. Sie hatte der Himmelsbeute einen Brief beigelegt. Darin hatte sie geschrieben, er dürfe damit machen, was er wolle. Was immer er entschied, wie die Collage endgültig aussehen würde, ja sogar ob sie überhaupt ausgestellt werden sollt e – sie würde seine Entscheidung akzeptieren.
Konnte ein Mensch auf brutalere Weise Abschied nehmen?
Ein blassrosa Lichtstreifen, beinahe unmerklich noch, der im Osten die Wolkendecke über dem kohlengrauen Häusermeer aufhellte, kündigte den neuen Tag an. Frierend schlug Harry den Kragen seiner Anzugjacke hoch. Würde er das Ende dieses Tages erleben? Noch war der Morgen kaum zu erahnen, doch New York, dieses Ungeheuer von einer Stadt, die niemals schlief, erwachte, ohne ein Auge zugetan zu haben. Überall, sowohl in den Fabriken von Brooklyn als auch in den Bürotürmen von Manhattan, flammten Lichter auf, um die Dunkelheit zu durchlöchern, und der Verkehr auf der Brücke belebte sich von Minute zu Minute. Arbeiter und Angestellte, die zu Fuß oder auf Fahrrädern von einem Stadtteil zum anderen hetzte n … Autos und Lastwagen, die zweispurig in beide Richtungen über die Brücke donnerten, sodass die riesige Hängekonstruktion davon erbebt e … Dazwischen die Straßenbahn, die bimmelnd irgendwo auf der einen Seite des Flusses aus dem Untergrund
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