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Himmelsdiebe

Himmelsdiebe

Titel: Himmelsdiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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auftauchte, um bimmelnd auf der anderen irgendwo wieder im Erdboden zu verschwinde n …
    Müde rieb Harry sich die Augen. War er wirklich das Ungeheuer, als das er sich schon seit Jahren in Verdacht hatte? Ein Mensch, der anderen Menschen wie ein Monster erschien? Ein Chamäleon der Gefühle, aus Liebe und Abwehr, Leidenschaft und Kälte, das er mit Lauras Hilfe überwunden geglaubt hatte?
    »Ich halte das nicht mehr aus!«, hatte sie gesagt. »Ich will nüchtern sein, Harr y – NÜCHTERN ! Hörst du?«
    Während die Erinnerung wie Sodbrennen in ihm brannte, dämmerte ihm, dass Laura ihn zu Recht verlassen hatte, dass sie ihn hatte verlassen müssen. Weil er sie genauso behandelt hatte wie alle anderen Frauen vor ihr auch. Mit Ironie statt mit Zärtlichkeit. Mit Spott statt mit Wärme. Mit geistreicher Distanz statt mit vorbehaltloser Hingabe. Als wäre sein Herz gefangen in einem Panzer aus Eisen.
    »Hatschi!«
    Süßlicher Veilchengeruch kitzelte ihm in der Nase: Gingers Parfüm. Um nicht zu erbrechen, zündete er sich eine Zigarette an. Doch von dem Rauch auf leeren Magen wurde ihm noch mehr übel als von dem ekelhaften Veilchenduft. Angewidert warf er die Zigarette über das Geländer. Unter ihm, in den schwarzen Fluten des Flusses, trieb etwas Helles vorbei, ein Laken oder ein Stück Segel oder Plane, wahrscheinlich von einem der zahllosen Schiffe, die auf dem East River verkehrten. Wie das Kleid einer Frau bauschte es sich in der Strömung. Harry musste an Florence denken. Auch sie hatte am Geländer einer Brücke gestanden, damals in Paris, und er hatte sie ausgelacht. Jetzt wusste er, was sie durchgemacht hatte. War er auch so eine Witzfigur wie sie? Sie eine gescheiterte Ophelia? Er ein gescheiterter Hamlet? Er konnte sich nicht mal erinnern, wie Hamlet geendet war. Hatte er sich selbst umgebracht? Oder war er umgebracht worden? Er ärgerte sich, dass er in der Schule nicht besser aufgepasst hatte. Wenn er sich nur erinnern könnt e – vielleicht hätte ihm das jetzt geholfen.
    Hinter ihm stießen krachend zwei Autos zusammen, im nächsten Moment ging ein wütendes Hupkonzert los. Harry drehte sich nicht mal um. Sollte er sich erschießen? Mit einer Pistole war Selbstmord eine sichere Sach e – aber woher bekam man eine Pistole? Nie hätte er sich träumen lassen, wie schwer es war, sich umzubringen, wenn man es ernst meinte. In der Phantasie war Selbstmord ein Kinderspie l – aber in der Wirklichkeit? Gift war auch keine Lösung. Man musste schon Apotheker sein, um an die richtigen Wirkstoffe zu kommen. Sich vor einen Zug werfen? Bei der Vorstellung drehte sich ihm der Magen um. Blieb nur ertränken. Aber wozu hatte er schwimmen gelernt?
    Einsam wie nie zuvor in seinem Leben, schaute er hinunter auf die schäumenden Wasserstrudel, die sich um den Stützpfeiler der Brücke bildeten. Seit seiner Kindheit hatten solche zerfließenden Formen ihm geholfen, irgendeinen Ausweg zu finden, wenn er sonst keinen Ausweg wusste. Jetzt aber versagten sie ihm ihre Hilfe: Alles, was er in den Fluten des Flusses sah, war seine eigene Vergänglichkeit. Wer würde die Rede an seinem Grab halten? Sein Freund Lauréat oder Pompon? Oder vielleicht Bobby, sein Sohn? Dieser wunderbare Junge, der alles getan hatte, damit er in dieses Land, das ihn nicht haben wollte, einreisen durfte? Vor seinem inneren Auge sah er die Menschenmassen, die an sein Grab pilgern würden, um ihm die letzte Ehre zu erweise n – Tausende und Abertausende verzweifelter Menschen, die bitterlich um ihn weinten. Die Vorstellung seiner Beerdigung war Harry ein kleiner Trost. Schade, dass er das nicht mehr erleben würde.
    »Es geht nicht anders, Harry. Nur wenn ich nüchtern bleibe, werde ich nicht wieder verrückt. Das ist meine einzige Chanc e … Um endlich frei sein zu können.«
    Plötzlich erblickte er seine Windsbraut in den Strudeln und Wirbeln des Wassers. Von schwarzen Mirakellocken umschäumt, erhob sich ihr Gesicht aus den Fluten, so wirklich und wahrhaftig, als hätte er sie gemalt. Doch statt ihn zu trösten, machte die Vision ihn wütend. Warum war sie immer noch da, nachdem sie doch mit ihm gebrochen hatte? Warum ließ sie ihn nicht einfach in Ruhe? Harry fühlte sich wie der mongoloide Junge in der Anstalt von Largentière. Der arme Teufel hatte auch in allen Farben und Formen immer nur ein und dasselbe Bild gesehen, Schwester Anna, das Gesicht der von ihm vergötterten Ordensfrau.
    »Ich weiß, Harry, aber zur großen Liebe gehört

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