Himmelsdiebe
beflaggten Domplatz und wartete auf Einlass. Hunderte neugieriger Männer und Frauen wollten an diesem nasskalten Vormittag die Wanderausstellung sehen, die in einer Reihe umgebauter Möbelwagen untergebracht war und nun auf dem Weg zwischen München und Hamburg in Köln Station machte. In den Transportern hatte Propagandaminister Joseph Goebbels alles zusammentragen lassen, was die Nazis unter Kulturbolschewismus verstanden. Bobby Winter, der sich schon seit über einer Stunde die Beine in den Bauch stand, las zum x-ten Mal die Ankündigung auf den Plakaten, mit denen die Wagen beklebt waren.
Entartete Kuns t … Gequälte Leinwan d … Seelische Verwesun g … Krankhafte Phantasie n … Geisteskranke Nichtskönne r … Seht Euch das an! Urteilt selbst! Besucht die Ausstellung!
Alle Deutschen waren aufgerufen, sich die Werke der verfemten Künstler anzuschaue n – zur Erziehung im arischen Geist. Bobby hatte lange gezögert, bevor er sich entschlossen hatte, die Ausstellung zu besuchen. Wollte er die Bilder seines Vaters wirklich sehen? Er war gerade drei Jahre alt gewesen, als Harry ihn und seine Mutter Mathilde wegen einer anderen Frau verlassen hatte. Bobby hatte damals beim Abschied gebrüllt wie am Spieß und wollte sich nicht mehr von ihm auf den Arm nehmen lassen. Seitdem hasste er ihn, mitsamt seiner Kunst, und als der Vater seiner jetzigen Frau Florence, ein hoher französischer Polizeioffizier, kürzlich aus Paris angerufen hatte, um sich nach irgendwelchen Papieren zu erkundigen, hatte Bobby keine Sekunde gezögert, ihm die gewünschten Auskünfte zu geben. Warum war er trotzdem hierhergekommen? Nur weil sein Chef, in dessen Buchdruckerei er als Lehrling arbeitete, ihm dafür den Vormittag frei gegeben hatte? Oder weil es vielleicht die letzte Möglichkeit war, sich von seinem Vater zu verabschieden, bevor er Deutschland für immer verließ, um nach Amerika auszuwandern?
»Na endlich!«
Plötzlich öffnete sich die Tür, ein Ruck ging durch die Reihe, und Bobby wurde in die Ausstellung gelassen. In dem umgebauten Möbelwagen war es so eng, dass man vor lauter Menschen kaum atmen konnte. Trotz des Gewühls erkannte Bobby sogleich ein Bild seines Vaters, es sprang ihm förmlich von der Wand entgegen: Die Vogelhändlerin – das Bildnis einer splitternackten Frau, deren Schoß nur durch eine weiße Taube verdeckt wurde. Im selben Moment bereute Bobby, dass er gekommen war. Vor der Absperrung stauten sich die Menschen zu einer riesigen Traube. Einige Betrachter beugten sich sogar über das Seil, um zu erspähen, was sich hinter dem Vogel verbarg, kichernd und mit lüsternem Grinsen. Der Anblick rief in Bobby all das in Erinnerung, was er an seinem Vater hasste. Dada, der Vogelober e … Der Frauenheld und Schürzenjäger, der seine Familie verraten hatte, um sich mit irgendwelchen Weibern zu amüsiere n …
»Und so was nennt sich Kunst!«, sagte jemand hinter ihm in der Schlange. »Eine Verhöhnung der deutschen Frau ist das!«
Der Mann hatte eine Glatze, und zwischen seinen Lippen wanderte eine Zigarre hin und her, während seine Glupschaugen wie Saugnäpfe an dem Bild hingen. Bobby wurde übel. Selbsternannte Übermenschen wie dieser Fettsack, der sich an dem Bild seines Vaters aufgeilte, indem er sich darüber empörte, waren der Grund, warum seine Mutter 1933 aus Deutschland nach Paris geflohen war und ihn bis jetzt bei seinen Großeltern zurückgelassen hatte, damit er seine Lehre zu Ende bringen konnte. Unwillkürlich tastete Bobby nach dem Visum in der Brusttasche seines Jacketts. Seit der amerikanische Konsul es ihm ausgehändigt hatte, trug er es ständig am Körper.
»Solche Bilder gehören verbrannt!«, sagte der Zigarrenraucher.
»Richtig!«, bestätigte ein Nebenstehender. »Und die Dreckschweine, die so was malen, gleich dazu!«
Abermals krampfte sich Bobby der Magen zusammen, und seine Hände wurden feucht. Was würde passieren, wenn ihn jemand erkannte? Er war der Sohn eines dieser »Dreckschweine«, und dazu ein halber Jude! Nein, es war ein Fehler gewesen, die Ausstellung zu besuchen. Sowenig er das Bild seines Vaters ertru g – noch schlimmer waren diese gemeingefährlichen Spanner. Auf dem Absatz machte er kehrt und drängte zum Ausgang. Während er um sich spähte, ob irgendwo Gestapo lauerte, schnarrte aus einem Lautsprecher die Stimme Adolf Hitlers auf ihn herab:
»Als die Vorsehung mich zu eurem Führer bestimmte, habe ich geschworen, kurzen Prozess mit dieser Entartung zu
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