Himmelsdiebe
ein Pferdefuhrwerk ihr den Weg. Ein Kohlehändler entlud gerade eine Fuhre Koks in einen Keller, sodass sie in die Rue Cardinale ausweichen musste, um nach Hause zu gelangen. Wie durch einen grauen, dichten Nebel sah sie die schwarzgesichtigen Arbeiter, die den Koks mit riesigen Gabeln in eine Kellerrutsche schaufelten. Sie hatte immer gedacht, die Krämpfe wären an allem schuld. Die Krämpfe, die ihre Eingeweide zusammenzogen und dann wieder anschwellen ließen wie einen Ball, den jemand in ihrem Leib aufpumpte, bis sie es nicht mehr aushielt. Sobald sie zu Hause war, würde sie einen Tee aufbrühen. Sie bewahrte in der Küche stets einen Sud von Orangenblüten auf. Der half ihr, sich zu übergeben.
Doch was würde das nützen? Ein kurzer Moment der Befreiung, mehr nicht. Dr. Drieux hatte ihr heute Morgen erklärt, dass die Krämpfe nichts mit der Sache zu tun hatten. Die Krämpfe waren nur ihre kleinen normalen Alltagsängste. Alles, was sie nicht verdauen konnte, was sie aus sich herauswürgen wollte, wenn es von ihr Besitz ergriff und sie belastete. Die Sache war viel heimtückischer, und gleichzeitig viel gefährlicher. Ein unsichtbares, bissiges Tier, das sich in ihrem Körper eingenistet hatte und sich darin ausbreitete und klammheimlich vermehrte, sich zerteilte in winzig kleine Untertiere, die sich wiederum in noch kleinere, noch winzigere Unteruntertiere zerteilten, und so weiter und so fort, bis in alle Ewigkeit. Jetzt hatte sich das große böse Muttertier in ihr festgebissen. Das jedenfalls behauptete Dr. Drieux.
»Ich rate dringend zur Operation«, hatte der Arzt gesagt und dabei auf dem Bügel seiner goldenen Brille gekaut. »Jede Prognose ist Spekulation. Der Körper macht, was er will. Sicher, manchmal geht es jahrelang gut und nichts passiert. Aber das ist die Ausnahme. Wenn Sie meinen Rat wissen wollen: Raus dami t – und zwar so schnell wie möglich!«
Wovon sollte Laura eine Operation bezahlen? Die fünfzig Pfund, die ihre Mutter ihr jeden Monat aus England schickte, reichten kaum für die laufenden Ausgaben. Und selbst wenn es ihr gelang, das nötige Geld aufzutreiben, war sie nicht sicher, ob sie die Operation wirklich wollte. Wäre sie danach überhaupt noch eine Frau? Gleich nach der Untersuchung hatte sie vom Postamt aus ihre Mutter angerufen, zum ersten Mal, seit sie ihre Eltern verlassen hatte. Obwohl die Verbindung ziemlich schlecht gewesen war und die Leitung fürchterlich gerauscht hatte, waren ihr beim Klang der vertrauten Stimme die Tränen gekommen. Ohne ihr einen Vorwurf zu machen, hatte ihre Mutter angeboten, nach Paris zu kommen, wann immer Laura sie brauch e – und wenn sie dafür ihren Bridge-Abend opfern müsste. Ausgerechnet jetzt, dachte Laura, nachdem Harry sie verlassen hatte, um zu seiner Elfe zurückzukehre n … Wie sollte sie das ihrer Mutter erklären? Bei der Erinnerung an ihre Mutter fiel ihr Roberto ein. Er war in der Botschaft, um ihre Pässe abstempeln zu lassen. Keine Sekunde hatte sie seit der Untersuchung mehr an ihn gedacht, so wenig wie an Mexiko. Obwohl er alles tat, damit sie sich an seiner Seite wie eine Königin fühlte.
Als sie die Haustür aufschloss, spürte sie wieder die Blähkrämpfe im Bauch. Ob schwangere Frauen sich wohl so fühlten, wie sie sich jetzt fühlte? In London hatte sie diese Krämpfe nie gehabt, erst in Paris waren sie entstanden. Hatte das damit zu tun, dass sie Professor Bonenfant und seine verschrumpelten Äpfel manchmal vermisste? Trotz aller Vorschriften und Verbote? So wie sie manchmal ihren Vater und ihre Mutter vermisste? Sie versuchte, sich das Haus ihrer Eltern vorzustellen. Wenn sie an das finstere Schloss mit seinen Erkern und Türmen dachte, erschien es ihr immer als ein Haus der Angst. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass sie ihre Angst nur überwinden konnte, wenn sie in Gedanken dorthin zurückkehrte, mitten hinein in diese Angst, als einzige Möglichkeit, sie zu überwinden.
»Mademoiselle Paddington?«
Die Concierge streckte ihren Eulenkopf aus dem Fenster der Loge, um ihr etwas zuzurufen, doch Laura achtete nicht auf sie. War es nicht ihre eigene Schuld, dass alles so gekommen war? Weshalb war sie mit Roberto gegangen? Vielleicht, ohne es selbst zu wissen, auch nur aus Angst? Aus Angst vor Harry? Beim Anblick seines Sohnes hatte sie gewusst, welch fürchterlichen Fehler sie begangen hatte. Sie hatte Sehen lernen wollen, Sehen und Malen und Leben. Doch für eine Sekunde vermeintlichen Lebens, in der sie
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