Himmelsdiebe
ein Zauberkünstler, der eine Taube aus seinem Zylinder flattern lässt, zog er die Verhüllung fort.
»Voilà!«
Der Anblick versetzte Capitaine Lelouche in einen Zustand tiefer Sprachlosigkeit. Offenbar schien er etwas von Kunst zu verstehen! Mit offenem Mund, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände auf dem Rücken, betrachtete er das Bild eine lange Weile, ohne ein Wort zu sagen. Harry roch schon den süßen Duft der Freiheit.
»Darf ich fragen, wie es Ihnen gefällt?«
Der Kommandant räusperte sich mehrere Male, bevor er zu einer Auskunft fähig war.
»Was die Darstellung der Baracke und Zelte betrifft«, sagte er schließlich, »so sind sie hervorragend getroffen. Und auch das Schloss erkenne ich zweifelsfrei wieder. Aber der Rest?« Er richtete sich auf und blickte Harry irritiert an. »Nun, ich bilde mir ein, dass ich durchaus über eine künstlerische Ader verfüge. Ohne die könnte ich als Hutmacher gar nicht existieren. Abe r – sehen die Gefangenen nicht eher aus wi e … wie Pfadfinder in einem Ferienlager?«
»Das ist ein beabsichtigter Effekt«, log Harry, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich wollte damit Ihr humanes Regiment zum Ausdruck bringen.«
»Ich verstehe, sehr schmeichelhaft. Trotzdem, irgendwie ist alles so rätselhaft. Zum Beispiel diese Gestalt hier!« Er tippte mit dem Finger auf die Leinwand. »Fliegt einfach durch die Luft. Soll das ein Schlossgespenst sein?«
»Das ist eine Windsbraut, mon capitaine . Eine symbolhafte Darstellung des Genius loci.«
»Windsbraut? Genius loci?« Der Kommandant schüttelte widerwillig den Kopf. Plötzlich rastete sein unsicherer Blick ein, der Oberkörper straffte sich, und seine Augen bekamen ihren fanatischen Ausdruck. »Wenn Sie mich fragen«, erklärte er, »ist das Ganze eine Beleidigung des guten Geschmacks. Da weiß man ja nicht, wo oben und unten ist. Die einfachsten Regeln der Kunst sind Ihnen fremd. Wo ist die Raumperspektive? Der Goldene Schnitt? Nein, mein Herr, Sie haben kein Recht, solche Scheußlichkeiten zu malen!« Er kniff die Augen zusammen, um Harry zu fixieren, und wippte auf seinen Fußballen. »Oder wollen Sie sich über mich lustig machen?«
»Um Himmels willen, nein! Die Windsbraut ist meine eigene Frau!«
»Das wird ja immer schöner! Was hat Ihre Frau auf meinem Bild verloren?«
Harry fiel aus allen Wolken. Der süße Duft der Freiheit wich dem muffigen Bürogeruch der Kommandantur. Fieberhaft überlegte er, wie er einem uniformierten Hutmacher in zwei Sätzen erklären konnte, was eine Windsbraut war, ohne seine Lage noch mehr zu verschlimmern. Schließlich versuchte er es mit einem Vorschlag zur Güte.
»Wenn Sie möchten, kann ich das Gesicht nach dem Vorbild Ihrer verehrten Frau Gemahlin korrigieren. Sicher haben Sie eine Fotografie, die Sie mir zur Verfügung stellen können.«
»Wollen Sie behaupten, meine Frau ist verrückt? In dem Schloss ist eine psychiatrische Klinik untergebracht! Eine Irrenanstalt!« Der Kommandant schnappte nach Luft, sein Oberlippenbärtchen zitterte vor Erregung. »Ich habe gleich geahnt, dass mit Ihnen was nicht stimmt! Schon beim ersten Appell sind Sie mir aufgefallen!« Capitaine Lelouche trat auf Harry zu und stieß ihm mit der Faust gegen die Brust. »Sie sind ein Nazi!«, rief er. »Ihr Geschmier ist der Beweis! Sie wollen meinen Kampf gegen den Führer sabotieren! Aber das werden Sie bereuen! Ich werde Si e …«
Mitten im Satz wandte er sich ab, um mit knallenden Stiefelschritten durch sein Büro zu marschieren. Harry konnte die Jauche der Latrine schon riechen. Während die Regentropfen auf das Wellblechdach trommelten, blieb Capitaine Lelouche plötzlich vor dem Schreibtisch stehen und schaute Harry mit gefährlich kleinen Augen an. Offenbar war er zu einem Entschluss gelangt. Wie um Anlauf zu nehmen, schnappte sein Mund auf und zu.
Da klopfte es an der Tür.
»Herein!«
Ein durchnässter Unteroffizier betrat den Raum. Harry schickte ein Dankgebet zum Himmel.
»Was zum Teufel wollen Sie?«, fragte der Kommandant.
Der Soldat schlug die Hacken zusammen und salutierte. »Melde gehorsamst, unser Lager wird aufgelöst.«
»Wie? Was? Ich verstehe kein Wort!«
»Befehl von der Leitstelle. Alle feindlichen Ausländer aus dem Département Ardèche werden nach Les Milles überführt. Morgen früh kommen Transporter, um die Gefangenen unseres Lager s …«
»Nach Les Milles?«, fiel Capitaine Lelouche dem Unteroffizier ins Wort. »Das ist ja fabelhaft!« Sein Gesicht strahlte
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